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»Guten Morgen, Klasse. Setzen.«

Dass die Tradition, die Schüler aufstehen und im Chor ein »Guten Morgen« rufen zu lassen, längst ausgestorben war, interessierte die vollschlanke Frau Franken scheinbar immer noch nicht. Auch dass ihr Hosenanzug vor zwanzig Jahren schon aus der Mode gekommen war, schien sie nicht zu kümmern. Sie war nicht einmal vierzig Jahre alt, wie ich wusste, und schon so verbittert, dass ich mich fragte, wieso sie überhaupt Lehrerin geworden war. Sicher hätte es passendere Berufe für sie gewesen. Politesse, vielleicht. Überhaupt irgendeine Beamte auf einem Amt, hinter einem Schreibtisch und ohne Menschenkontakt. Oder als Tigerzähmerin beim Zirkus, wo sie von einem besonders anmutigem Tier langsam verschlungen wurde und –

»Sie sollten alle anfangen zuzuhören!«, riss mich die Stimme wieder aus den Gedanken.

Wie für gewöhnlich fand ich den Religionsunterricht mit ihr zum Sterben langweilig. Sie hielt sich strikt an den Lehrplan, ließ keine Diskussion zustande kommen und verbot jegliche Art der Kommunikation untereinander. Gerade an dieser Schule, wo die Fachrichtung aus dem Sozialwesen bestand, waren lebhafte Unterhaltungen für gewöhnlich an der Tagesordnung. Nicht hier. Wozu auch. Eigenständiges Denken war doch eine Unart, die in Schülern nichts zu suchen hatte.

»Welche Formen der Armut gibt es?«, kritzelte Frau Franken in ihrer unleserlichen Schrift an die Tafel und wartete auf die ersten Meldungen. Zeit für mich mit offenen Augen zu schlafen. Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen in all den Schulstunden, die für mich ja doch nur eine Qual waren. Hätte ich Nathalie nicht versprochen, hiermit weiter zu machen, würde ich mich niemals jeden Tag zu dem tristen Gebäude schleppen, nur um mit gemäßigter Laune am Unterricht teilzunehmen. Wobei auch das Wort »teilnehmen« fast eine Übertreibung darstellte.

»Wer döst hier denn vor sich hin?«

Überrascht schaute ich zu dem Platz neben mir, der bis vor wenige Minuten noch leer gewesen war. Ich Dummerchen hatte es als Geschenk Gottes – ha, wegen des Religionsunterrichts, schon klar – angesehen, dass die Quasselstrippe an diesem Tag fehlte. Da ich ohnehin nicht besonders gut drauf war, was den vielen Stunden Serien und Chips in mich hineinstopfen zu verschulden war, hatte ich es genossen, heute keine Sitznachbarin zu haben. Dass Noah nicht auf meine Anrufe reagierte, half mir auch nicht weiter. Es war nichts vorgefallen – nichts an das ich mich erinnerte. Doch er war seit einigen Tagen stiller geworden, was nicht zu ihm passte. Auch die Idee für das Treffen gestern war von mir gekommen und ich hatte ihn beinahe zwingen müssen, auch wirklich aufzutauchen. Machte mir schon Sorgen.

»Katja. Hi.« Ich räumte meinen Block von der Tischhälfte und nahm die Handtasche von dem Stuhl, auf den meine Mitschülerin sich setzen wollte.

Als ich mich am ersten Schultag für den Platz ganz vorne am Fenster entschieden hatte, war das bewusst gewesen. Für gewöhnlich wollte sich niemand direkt vor dem Lehrerpult niederlassen, nicht einmal an dieser Schule. Ich hatte mit keinem Sitznachbarn gerechnet. Zudem bot der Platz am Fenster einen Vorteil, den ich gerade sehr zu schätzen wusste: Hinter mir befand sich die Heizung. Ein Geschenk für eine verfrorene Nuss, wie ich eine war.

Doch Katja Weimert hatte sich nicht um Konventionen geschert. Sie hatte am ersten Schultag direkt den Platz neben mir eingenommen und wann immer wir zusammen einen Kurs besuchten, landete sie ebenfalls dort vorn.

»Hast du die Hausaufgaben in Deutsch?«

Ich seufzte. Nickte. Mir war egal, dass Katja sich keine Sorgen zu machen schien, von Frau Franken angesprochen und verwarnt zu werden, doch ich hatte bereits zwei Warneinträge im Klassenbuch. Beim dritten musste ich nachsitzen. Schon wieder. Sicher würde das diesmal Konsequenzen nach sich ziehen, die ich nicht gebrauchen konnte.

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