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»Meinst du, sie kommen pünktlich?«, scherzte Nathalie mit belegter Stimme und schaute demonstrativ auf die LED-Uhr im Flur.

18:58.

Wie ich die beiden kannte, warteten sie aller Voraussicht nach im Wagen, bis es punktgenau 19 Uhr war. Solche Menschen waren sie.

Als hätten Frauke und Thomas mich gehört, klingelte es passend zur vollen Stunde. Mit weichen Knien und dem Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen, nahm ich den letzten Schritt zur Tür und öffnete diese. Das erste, was mir entgegen strahlte, waren die Blumen – ein großer gemischter Strauß aus Rosen, Tulpen und Lilien – den Frauke mir entgegenstreckte. Gleich darauf erblickte ich die einzelne Calla und den blütenweißen Briefumschlag, den Thomas in der Hand hielt.

»Es freut mich so sehr, dass du uns sehen willst«, rief Frauke überraschend laut aus und trat einen Schritt vor, während ich mein instabiles Lächeln aufrecht erhielt.
»Nach all den Jahren!«

»Mama«, sprang Nathalie ein, als auch ihr Blick auf die Blume in der Hand ihres Vaters fiel. »Das sind ja wunderschöne Blumen. Wollen wir gleich mal eine Vase für sie finden?«

Erst als Frauke im Haus verschwunden war, kam auch Thomas in den Flur des Hauses, sodass ich die Tür schließen konnte. Galle stieg in meiner Speiseröhre hoch und ich schluckte schnell mehrfach, um die bittere Essenz zu vertreiben.

»Es ist noch gar keine Blütezeit, denke ich. Aber die lag vor eurer Haustür.« Er streckte mir die Calla und den Umschlag entgegen, mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht deuten konnte. Er musste wissen, was das bedeutete.
»Ich habe damals mit meiner Tochter korrespondiert, weiß also, dass das hier kein Zufall ist. Hat es etwas damit zu tun, dass diese schreckliche Frau entlassen wurde?«

Die schreckliche Frau. Meine Mutter.

Tapfer schüttelte ich den Kopf, nahm meinem Pflegevater alles aus der Hand und verstaute es in der größeren Schublade der Kommode, die endlich einen Nutzen hatte. Sie war ein hervorragendes Versteck für Dinge, die nicht mehr in Sichtweite liegen sollten.

»Nein, das war bestimmt Noah Hinze. Du erinnerst dich an ihn? Er hat damals unweit von eurem Haus gewohnt.«

Räuspernd richtete Thomas seine Krawatte neu, schloss den Knopf seines Jacketts. »Nein, der Name sagt mir nichts. Ist er dein Freund?«

»Mein bester«, erwiderte ich und dieses Mal war mein Lächeln nicht unecht. »Komm, wir suchen Nathalie und Frauke. Vermutlich haben sie schon alle Schränke auseinander genommen, um nach geeigneten Behältnissen für diesen atemberaubenden Strauß zu suchen. Wo habt ihr ihn gekauft? Er duftet herrlich.«

Unwillkürlich plapperte ich einfach drauf los, wie ich es schon damals gemacht hatte, als die Jugendbeamten uns besucht hatten. Etwas an der Gegenwart der Stiesings ließ mich zu einer anderen Version von mir selbst werden. Einer nervösen, aufgeschreckten Jugendlichen. Wie ich es vermutlich auch sein sollte.

»Mama«, sagte Thomas beim Betreten des Wohnzimmers und hielt an. Es war nicht das erste Mal, dass er dieses Haus betrat, immerhin hatte Nathalie ihre Eltern nach unserem Einzug hergebeten. Nur war ich damals bei Noah gewesen.
Trotzdem sah Thomas sich den Raum genau an.

»Was meinst du?«, fragte ich und lief auf Nathalie zu, die bereits die Sektgläser füllte.

»Du sagtest Frauke. Die richtige Anrede wäre wohl 'Mutter' oder 'Mama' gewesen.«

Da war er. Der erste Stich, den ich ignorieren musste.

  
Ein Unwetter war schlimm. Das Zusammenstürzen der Börse war schlimm. Eine Sintflut eine Katastrophe. Atombomben waren die Mutter aller Katastrophen. Die Stiesings waren mein Untergang und ganz persönliches Armageddon.

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