34. Mal

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Ich führte eine Liste mit den Restaurants, Bars und Cafés, in denen Noah und ich uns schon einen Antrag gemacht hatten. Nichts wäre peinlicher als erwischt zu werden. Nichts wäre ... gefährlicher. Doch da wir in einer großen Stadt lebten, ging uns das Material so schnell nicht aus, wie man an dem kleinen Nischencafé von letztens erkennen konnte.

Noah hatte einmal gesagt, dass genau das für ihn der Reiz war. Die Gefahr, erkannt, gefilmt und erwischt zu werden. Ich widersprach ihm dabei gerne, denn eine Polizeiakte, wenn auch so eine kleine, wäre das Letzte, was ich gebrauchen konnte. Nicht schon wieder.

Pünktlich wie ein Uhrwerk stand Noah vor meiner Zimmertür und klopfte gegen den Türrahmen. Schon vor Jahren hatte ich ihm einen Schlüssel für das Haus – oder eher die Häuser, in denen wir lebten – gegeben und er ging ein und aus. Was kein Wunder war, bei seinem eigenen desaströsen Zuhause. Selbst Nathalie war froh, wenn er bei uns Zuflucht suchte.

»Dein Ernst?«, fragte ich ihn und deutete durch den Standspiegel, vor dem ich stand, um mir meine Ohrringe anzuziehen, mit dem Kinn auf meinen besten Freund. »Du trägst einen Anzug.«

»Und du Jeans. Waren die mit Leopardenmuster in der Wäschebox?«

Mit gespielter Wut verengte ich die Augen und starrte ihn nieder. »Als du sagtest, dass ich mich schick machen soll, nahm ich nicht an, dass du das so wörtlich meinst.«

Denn für gewöhnlich war Noah eher der lässige Typ. Für mich war es vollkommen selbstverständlich mich schick zu machen, wenn ich ausging. Was andere schon übertrieben fanden, wenn ich mit einer eleganten Bluse, Ohrringen und den passenden Ketten zu einem Abend im Club auftauchte, war es für mich eine Gewohnheitssache. Ich mochte es, mich ein wenig abzuheben. Ich mochte es, gut auszusehen. Immerhin ging ich nicht einmal mit Jogginghose zu den Mülltonnen, die vorm Haus standen.

»Zieh dich um. Wir kommen zu spät.«

Noah setzte sich auf mein ungemachtes Bett, nahm eines meiner Bücher zur Hand und blätterte darin um. Der Anblick war so alltäglich, so normal. Es beruhigte mich, ihn zu sehen, ihn dabei zu beobachten, wie er sich lächelnd auf meinem Bett zurücklehnte.

Wir kannten uns seitdem ich zu den Stiesings gekommen war und er jeden Nachmittag auf dem Spielplatz gegenüber des Hauses Fußball spielte. Er war damals knapp acht, ich sechs Jahre alt gewesen. Tagelang hatte ich ihn durch das Fenster beobachtet – hatte sich also nicht viel zu heute verändert.

Vorlaut, wie ich auch schon als Kind gewesen bin, hatte ich mich eines Wintertages einfach selbst in eines der beiden Teams eingeteilt und Noah dabei haushoch besiegen können.

Der Geburtstag unserer Freundschaft.

Uns verband so viel Vergangenheit, soviel Geschichte und ich erhoffte mir nichts sehnlicher, als auch eine Zukunft mit ihm. Egal was kommen mochte.

»Es ist Donnerstag. Wohin gehst du mit mir an einem Donnerstagabend, das Abendgarderobe beinhaltet?«

»Zu McDonalds natürlich«, erwiderte Noah und gähnte ausgiebig. Aus Angst, dass er gleich vor meinen Augen einschlief, beeilte ich mich, eines der wenigen wirklich festlichen Kleider aus dem Schrank zu ziehen. Entgegen meiner Alltagskleidung bestand ich bei Abendkleidern auf besonders anmutige Stücke. Wer alljährlich zum Winterball der Stadt ging, besaß das ein oder andere Kleid passend für einen Königsball, darauf legte auch Nathalie immensen Wert.

Die Wahl fiel auf ein dunkelgraues Strickkleid, das eng anlag, ohne aufzudicken. Es erschien mir immer wie ein Wunder, wie manche Designer es schafften, Kleidung zu produzieren, die so geschmeidig und gemütlich war, während sie auch noch schick aussah. Während andere Designer nur in der Lage waren, Klamotten zu schneidern, die zwar schön aussahen, aber eine Qual waren. Oder drei Kleidergrößen auftrugen. Oder zwickten. Oder merkwürdig saßen.

»Können wir?«, fragte ich, schlüpfte in die Schuhe und zog Noah am Hosenbein. Mir entgingen nicht die Augenringe unter seinen Augen und beschloss daher, ihn für eine Übernachtung bei mir einzuladen. Später, nach dem mysteriösen Abendessen. Das hatten wir schon lange nicht mehr getan und eine Nacht, in der er durchschlafen konnte, war auch nicht verkehrt.

»Ich hoffe, du weißt, dass ich Angst habe«, murmelte ich, als Noah sich hinter das Steuer von Olaf setzte und zielorientiert aus der Parklücke fuhr. Wie in so vielen Bereichen war er auch besser im Fahren. Was kein Wunder war, er hatte viel länger geübt.

»Ich werde dich schon nicht entführen.« Er grinste. Ich nicht. Ich hasste Überraschungen. Unvorhersehbare Treffen. Ich mochte es, wenn ich eine Ordnung beibehalten konnte. Oder zumindest wusste, auf was ich mich einließ. Der einzige Grund, wieso ich seelenruhig neben ihm sitzen blieb, war das Vertrauen in Noah. Er würde mir nicht schaden. Niemals.

Es war dennoch ziemlich überraschend, als Noah vor dem Snowfall anhielt. Einem eher mittelprächtigen Restaurant, in dem für gewöhnlich kein Dresscode herrschte, wie wir ihn gerade einhielten.

»Scheiße, warum hast du mich nicht die Leopardenpants anziehen lassen?«, grummelte ich scherzhaft und kniff ihm in den Oberarm. Bevor ich noch etwas ansetzen konnte, wurde die Beifahrertür aufgerissen und Kai erschien in meinem Blickfeld. Ebenfalls in Anzug und Krawatte.

Kai, der beste männliche Freund von Noah, der nicht einmal eine Jeans besaß, weil er immer im Trainingsanzug herumlief, stand im Anzug vor einem Mittelklasse-Restaurant und hielt mir die Autotür auf. Das war etwas, das ich erst einmal verdauen musste.

Natürlich war klar, worauf dieser Abend abzielte. Noah spielte eine Show ab, auch wenn sich ein Teil von mir wünschte, dass es mehr wäre als das. Doch das war der selbstzerstörerische Part meines Gehirnes, der nicht zulassen wollte, dass ich etwas Gutes in meinem Leben besaß.

»Miss Stiesing, wie schön Sie heute hier begrüßen zu dürfen.«

Neben Kai erschien Ari und komplimentierte damit das Trio. Die drei Freunde waren wie Filmfiguren – schon immer befreundet und gemeinsam durch Dick und Dünn gegangen. Zu meinem Glück konnte ich sagen, dass ich irgendwie dazugehörte. Sie waren ein Teil meiner Familie.

Es war weiterhin ungewöhnlich kalt für Anfang November, besonders im Vergleich zu vorangegangenen Jahren. Gerade als ich die Arme um sich selbst schlingen wollte, um dadurch ein wenig der Wärme zu behalten, kam Noah um das Auto herum und legte mir sein Jackett um die Schultern. Ein waschechter Gentleman, dieser beste Freund von mir.

»Ich wollte einen schönen Abend mit meinen besten Freunden verbringen«, sagte er, doch anhand seines schelmischen Grinsens wusste ich schon, dass das nicht die ganze Wahrheit war. Nicht dass ich das vorher nicht schon geahnt hätte. »Ma'am«, sagte er weiter und bot mir seinen Arm an.

Ich verdrehte die Augen, hakte mich bei ihm unter und achtete auf meine Schritte. Die Vortage hatte es Regen in Massen gegeben und ich trug Schuhe von Nathalie. Es war eine Sache, Nachsitzen zu müssen, aber Eigentum von ihr zu zerstören, wenn auch unabsichtlich ... Ich hätte mir schon ein Loch in der Erde schaufeln können.

»Wird das eine unserer speziellen Verabredungen? Zwei in einer Woche?«

Es war nicht so, dass wir Regeln aufgestellt hatten. Doch es war wichtig für uns gewesen, es nicht zu übertreiben. Denn wer es ausreizte, machte Fehler. Das Wichtigste war, dass es Spaß machte und dass wir uns gegenseitig überragten.
Konkurrenzkämpfe in ganz anderen Ligen eben.

Möge der Bessere gewinnen und nicht heiraten.

99 MalWhere stories live. Discover now