41. Mal

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Ich rechnete jeden Tag mit Noahs Rache. Bei jedem Anruf zuckte ich in freudiger Erwartung zusammen und war fast schon traurig, wenn es nicht mein bester Freund war, der mich sprechen wollte.

In der Schule hielt ich ebenfalls nach ihm Ausschau, da seine versprochene Revanche sicherlich nicht in irgendeinem kleinen Restaurant oder Café am Rande der Stadt stattfinden würde. Noah machte sich Gedanken.
Seine Rache würde monströs sein und ich würde nicht damit rechnen.

Nichts geschah. Es verging eine Woche, ein weiteres Wochenende und letztlich waren es nur noch vier Tage bis Weihnachten und Noah hatte keinen Finger gerührt, was mich nervöser machte als wenn er es endlich hinter uns brachte.

»Er wird überlastet sein«, meinte Carla dazu und biss ein weiteres Stück ihrer Selleriestange ab. Seitdem sie den netten Studenten im Lotus kennengelernt hatte, wollte sie unbedingt ihr Aussehen verändern. Was ich nicht nur dämlich, sondern auch für gesundheitsgefährdend hielt.

Es war eine Sache, wenn man sich aus eigenem Wunsch einer Diät und Schönheitskuren unterzog, aber eines Mannes wegen? Sollte man nicht schön für sich selbst sein? Sollte man sich nicht selbst gefallen? Oder ich lebte in meiner eigenen kleinen idealen Welt.

»Oder er hat kein Interesse daran.« Auch ich futterte etwas. Dominosteine. Eine meiner Lieblingsnaschereien, seitdem ich ein Kind war. Schon vor einer Woche hatte Leila einen Vier-Monats-Vorrat für mich angeschafft, da diese Leckerei stets nur im Winter verkauft wurde. Zum Glück hielten sich die Marzipan-Schokoladen-Dinger ewig.

»Warst du nicht diejenige, die ihm vorgeschlagen hat, dass ihr eine Pause einlegt? Es ist Weihnachten, er hat eine Familie, die das zelebriert. Du weißt doch besser als alle anderen, wie stressig der Dezember für ihn ist.«

Und auf der Vernunftsebene war mir genau das auch klar. Doch gleichzeitig ... zweifelte ich. Die Verlobungen waren unsere Art gewesen, in Kontakt zu bleiben. Noah seit elf Tagen nicht gesehen und nur durch Textnachrichten gesprochen zu haben, ließ in mir die altbekannte Angst hochkriechen.

»Er hat dich leid. Genau wie dich jeder in deinem Leben eines Tages ausradieren wird. Niemand kann dich leiden, Alessandra. Deswegen wirst du immer einsam und verlassen bleiben. Nicht hier. Nicht wenn du bei mir bleibst. Ich bin deine Familie, schon vergessen?«

Carla richtete sich auf ihrem Bett auf und schaute Alyssa eindringlich an. »Wenn wir schon über ungemütliche Themen reden, muss ich noch etwas ansprechen: Wirst du sie dieses Jahr sehen?«

»Nein«, war meine kurze Antwort. Mehr Wörter brauchte ich allerdings auch nicht und es traf mich, dass Carla fragen musste. Es war ein Gebot zwischen uns, dass wir nicht über Nathalies Eltern sprachen. Und schon zehnmal nicht kurz vor den Feiertagen.

»Es ist jetzt elf Jahre her, Liebes. Ich kann mitkommen und ...«

»Ich habe Nein gesagt!« Meine Atmung wurde kurz und flach, als ich von dem Himmelbett aufstand, das Carla seit einem Jahrzehnt besaß. Ihr gesamtes Zimmer bestand aus alten Möbelstücken, die jedoch noch super erhalten waren. Bücherregale mit Schulsachen, ein weißer Holzschrank mit Kleidungsstücken, ein Regal für Badezimmerartikel und ein Schreibtisch mit Fenster darüber. Eine Fotoleinwand.
Ein kleiner Fernseher auf einem rollenden Tisch war das einzig Neue in dem Raum. Alles in Carlas Zimmer hatte eine Vergangenheit, auf die sie zeigen konnte.

Der Brandfleck auf dem Tisch war von einem Nachmittag, als wir versucht hatten einen Geist zu beschwören, obwohl ich das für eine dumme Idee gehalten hatte. Die Schramme am Schreibtisch war durch Carlas Dickschädel entstanden, als sie versucht hatte mit Rollerskates einen Salto zu machen. Den Kratzer an der Tür hatte ich zu verschulden, als ich mit meinem Fechtunterricht hatte angeben wollen. Es gab ein Regalbrett, auf dem Carla Babysachen von sich und Clarissa gesammelt hatte. Babylocken und eine Dose mit Milchzähnen.

All diese Dinge besaßen eine Geschichte, die mal schön und manchmal auch sehr traurig war. Es gab schwarze Bilderrahmen von Großeltern, die gestorben waren. Ein Büschel Katzenhaare, von einem Haustier, das nie wieder aufgetaucht war. Die einzige »6« im Zeugnis, die neben dem Schreibtisch hing, um zur Motivation anzuleiten.

Solche Dinge zeichneten Menschen, verpassten ihnen einen Schatten, einen Hintergrund. Solche Dinge gab es nicht in meinem Leben. Mein Zimmer war nicht das Erste, die Möbel waren erst zwei Jahre alt. Ich besaß keine Babyschuhe, keine alten Fotos meiner Eltern, keine Andenken an Ausflüge mit der Familie. Alles, was ich besaß, waren Narben, um mich daran zu erinnern, dass ich Teil von zwei Familien war, die ich nicht mehr besaß.

»Ich gehe jetzt nach Hause«, erklärte ich mit trockenem Hals und als Carla mir etwas nachrief, hörte ich nicht hin.

Ich hasste es, daran erinnert zu werden, dass ich rechtlich gesehen eine Waise war. Meine Eltern waren in einem Feuer ums Leben gekommen, als ich keine vier Jahre alt war. Ich konnte mich nicht daran erinnern, könnte nicht sagen, wie meine Eltern aussahen, wie ihre Stimmen klangen. Fotos gab es kaum noch. Die meisten waren im Haus verbrannt und die, die Nathalies Eltern besaßen, waren streng unter Verschluss.

Manchmal glaubte ich noch, den angenehmen Duft nach dem Holzkamin zu riechen.

Die Ermittler hatten damals das Geschehen versucht zu rekonstruieren, wobei ich wohl kaum eine Hilfe gewesen war. Ich wusste nur, dass ich mit meinen Minnie Mouse Socken in einem Krankenwagen saß und die witzigen Männer mit den dicken Schläuchen im Garten standen. Die nächste Erinnerung war die der Familie Stiesing.

Es hieß, dass ich Schutzengel besessen haben musste, mitten in der Nacht die Treppenstufen hinunter zu laufen. Ich hatte das Feuer nicht bemerkt. Hatte nicht den dichten Rauch im ersten Stock wahrgenommen. Nicht das Lodern der Flammen gesehen. Ich war blind ins Erdgeschoss gelaufen, wo das Feuer noch nicht wütete. Und genau das hatte mir das Leben gerettet und meinen Vater das Leben gekostet.

Mit Tränen vor den Augen trat ich aus Carlas Haus und sah mich nach links und rechts um. So aufgewühlt, wie ich war, konnte ich nicht fahren. Noah musste arbeiten. Nathalie war mit ihren Freundinnen aus. Es war ein Sonntagabend, jeder hatte etwas zu tun.

Ohne dass ich wusste, wieso, holte ich mein Handy aus der Hosentasche und rief die Auskunft an. Ließ mich zum Lotus durchstellen, fragte nach Daniel und bekam sogar eine Antwort. Ich hatte ja schon immer geahnt, dass man mit Frechheit und Dreistigkeit weit kommen konnte. Aber es überraschte mich dann doch, als ich erfuhr, dass er zwar im Haus war, allerdings nicht arbeiten musste.

Weil ich nicht weiter wusste, legte ich auf und rief ein Taxi. Er hatte weitere Male versprochen. Vielleicht war es jetzt an der Zeit, dieses Verpflichtung einzuhalten.

99 MalWhere stories live. Discover now