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[Guten Morgen! Es sind nur noch 7 Kapitel & deswegen dachte ich euch, ich schenk euch heute direkt noch ein Kapitel!]

Wie sich herausstellte, hatte Carla es mit den Einladungen dezent übertrieben. Und wenn ich »dezent« sage, meinte ich eigentlich »riesig«.

Aus meinen angedachten 70 Leuten waren 200 geworden, wenn nicht sogar noch mehr. Da ich mich in Menschenmassen nach wie vor unwohl fühlte, zog ich mich von Anfang an in eine der hinteren Ecken zurück. Nicht dass ich nicht trotzdem versuchte meinen Spaß zu haben.

Da Kai und Ari aus Solidarität zu Noah abgesagt hatten, war ich allerdings die meiste Zeit alleine. Abgesehen von Skip, der öfter in meiner Nische vorbeischaute und versuchte, mich zu unterhalten. Daniel hingegen war unentwegt am Arbeiten.

»Könnt ihr euch vorstellen, dass Aly mal nur so groß war?«, fragte Carla angeheitert und zeigte eine Stelle knapp unter ihrer Hüfte. »So klein war sie.«

»Du auch, möchte ich behaupten«, stellte ich klar und trank einen weiteren Schluck. Ich hatte auf so einige Runden verzichtet, sodass ich auch noch recht klar im Kopf war. Noch immer war es unbegreiflich, dass wir beide jetzt den Abschluss hatte. Dass wir das leidliche Schulgebäude nie mehr betreten mussten. Nie mehr Lehrern hinterherlaufen würden, nie mehr in stinkenden Klassenzimmern sitzen mussten.

Es war ein bisher unbekanntes Gefühl der Freiheit, das ich gern mit Noah geteilt hätte.

Ich hasste mich sofort selbst für diese Trübseligkeit. Wann war ich so eine Heulsuse geworden? Noah hier, Noah da. Er versaute mir meinen ganzen Spaß am heutigen Tag! Dabei war er nicht einmal da.
Das schafften auch nur Männer. Oder eher Menschen, die wir mehr liebten als uns selbst.

»Aber sicher war Aly um Einiges süßer«, erklärte Daniel und zog mich mit einem Arm um meine Hüfte näher an sich. War ja klar, dass er zu so einem Gespräch plötzlich auftauchen konnte.
»Das sieht man ihr an.«

Ach ja. Tat man das?

Okay, ich war doch schon etwas angetrunkener, als ich angenommen hatte. Was mir vergönnt war, immerhin -

Ich erstarrte noch in meinem eigenen Gedankengang. Am Eingang des Clubs, keine zwanzig Meter von mir entfernt, stand Elaine. Nicht zu übersehen, in ihrem knalligpinken Kleid.

Elaine.

Die Elaine, die mir die ganze Scheiße mit Noah eingebrockt hatte. Die Elaine, die scheinbar meine Halbschwester war. Die Elaine, die hergekommen war, um mein Leben zu ruinieren und die ja einen Sinneswandel hatte.
Als ob. Als ob irgendjemand, der bei unserer Mutter aufgewachsen war, sich je von ihr trennen könnte. Dafür war sie viel zu ... charismatisch. Viel zu einnehmend. Viel zu ...

»Was willst du hier?«, rief ich und meine Freunde drehten sich in dieselbe Richtung um. »Verschwinde hier!«

Auch Daniel machte sich auf den Weg, genauso feindselig, wenn ich seinen wütenden Gesichtsausdruck richtig deutete. Mein Ritter. Immer bereit meine Kämpfe zu schlagen, ob ich wollte oder nicht.

»Hö?«, gab Carla von sich, die offensichtlich nicht verstand, um wen der Trubel gemacht wurde.

Abwehrend hielt Elaine die Arme hoch und verzog keine Miene, als ich mit angespanntem Körper vor ihr zum Stehen kam. Ich war bereit. Für alles. Dabei bemerkte ich, dass meine Feindin gut aussah. Selbst im schummrigen Licht erkannte ich die Marken an ihr, das makellos frisierte Haar, das wunderschöne Make-up.

Das hier war Noahs Prinzessin.

»Ich bin nicht hier, um mich mit dir zu streiten«, gab Elaine von sich und schulterte ihre Tasche auf der anderen Seite.

»Ach und weswegen bist du dann hier?«

»Aly, ich schmeiße sie raus, du musst nicht mir ihr reden«, fiel Daniel mir ins Wort, fixierte jedoch weiterhin die Blondine vor sich.
»Es ist heute Abend geschlossene Veranstaltung, da hat sie nichts verloren.«

Einen Moment lang wollte ich nachgeben und ihn das regeln lassen. Er war nun einmal mein Prinz, wenn ich weiter in dieser blöden Metapher bleiben wollte. Und ich wollte nicht mit Elaine reden, mich nicht mit ihr auseinandersetzen. Sie hatte keinen Platz in meinem Leben, nicht einmal den meiner Feindin.

Doch gleichzeitig sagte eine kleine Stimme in mir, dass es der falsche Weg war. Dass ich erneut auf einen Pfad entlangging, der mir nicht half. Dass ich für mich selbst einstehen musste. Dass sie zudem nach wie vor Noahs Freundin war und wenn ich ihn je zurückhaben wollte, musste ich auch das akzeptieren.

»Ich bin nur hier, weil es Noah schlecht geht.«

Umgehend richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder meiner Feindin zu.
»Was meinst du damit? Ist er verletzt? Wo ist er? Was ist passiert?«
Es fehlte nicht viel und ich wäre Elaine an den Hals gesprungen, ehrlich wahr. Nur dass mir das auch nicht die gewollten Informationen gebracht hätte.

Elaine schüttelte den Kopf und wich vor einem Paar zurück, das sich ihren Weg zur Tür bahnte. »Er ist nicht verletzt. Es geht ihm nur nicht gut.«

»Weil du ihm die beste Freundin gestohlen hast«, erklärte Daniel und griff nach meine Hand. Dass ich mal erlebte, dass er sich positiv Noah gegenüber äußerte ...
»Du hast Alyssa und Noah dadurch beide verletzt und wozu? Damit du in einem guten Licht da stehst?«

Es war Elaine anzusehen, dass sie am liebsten etwas Schnippisches – oder zumindest etwas Gemeines – erwidert hätte. Stattdessen schnalzte sie mit der Zunge, fuhr sich übers Haar und sah sich erneut im Raum um.

Sie hatte so wenig mit mir gemein, obwohl wir zur Hälfte dieselbe DNA besaßen. Genetik war nicht alles, so viel stand hiermit fest.

Sie war in einem Verlies großgeworden, das sich sicherlich als Palast getarnt hatte. Ein Schloss voller Lügen und Vertuschungen und bröckelnder Fassade. Während ich in einem einfachen Haus aufwuchs. Okay, auch mit bröckelnder Fassade, aber die Grundmauern waren immer stabil gewesen. Ich hatte Liebe erfahren, hatte gelernt zu lieben. Etwas, das ich mir bei Elaines Erziehung nicht vorstellen konnte.

»Können wir irgendwohin, wo es privat ist? Ich will wirklich mit dir reden, Aly.«

Nur meine Freunde dürfen mich so nennen.

»Okay«, seufzte ich. Ein kleines Wort und so eine große Bedeutung.

99 MalWhere stories live. Discover now