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Atmen. Atmen. Atmen. Lächeln nicht vergessen, feuerte ich mich in Gedanken selbst an und verzog den Mund. Ich folgte Daniel durch den Eingang, zu dem Tisch in einer der vorderen Bereiche, ließ mir von Daniel den Stuhl zurückziehen und setzte mich an den Tisch. Daniel stellte sich Elaine vor, nahm neben mir Platz und ergriff umgehend meine Hand unter dem Tisch. Er spürte, dass etwas nicht stimmte.

»Endlich treffen wir mal alle aufeinander«, sagte er mit einem strahlenden Lächeln und drückte passend meine Hand, als würde er in meinen Gedanken lesen können.
Gar nicht so unwahrscheinlich. Daniel besaß eine gute Intuition und er kannte mich – Sicherlich bemerkte er, dass etwas hier mir sauer aufstieß, auch wenn er nicht den Grund dafür wissen konnte.

»Ich habe schon so viel von dir gehört, Alessandra!«, sagte Elaine und jedes Wort wirkte wie ein Peitschenhieb.

Ich hörte kaum, wie Noah lachend erklärte, dass ich lieber Alyssa genannt werden wollte oder wie Daniel für uns beide ein Wasser bestellte. Von dem Geschehen um mich herum bemerkte ich nur noch Bruchstücke, musste einfach weiterhin Elaine anstarren, die mir gegenüber saß. Das Kleid der Blondine besaß kurze Fledermausärmel in durchscheinendem Stoff. Es sah hübsch aus, doch das war nicht, was mir auffiel. Der linke Ärmel war verrutscht und offenbarte eine kleine Tätowierung, eine kleine Taschenuhr, nicht größer als eine Handfläche. Ich kannte diese Tätowierung, hätte sie selbst beinahe erhalten. Fand es damals cool und aufregend, mit meinen jungen und naiven sechzehn Jahren.

Was war ich für ein Kleinkind gewesen. Hatte blindlings einer Frau vertraut, die meine Familie sein sollte und alles andere als das war. Denn Familie hinterging sich nicht. Familie richtete nicht absichtlich Schaden beieinander an. Familie war füreinander da. Familie verlangte keine unmöglichen Dinge.

»Alyssa, wo bist du nur?«

»Hm?«, murmelte ich und saß drei Augenpaaren gegenüber, die mich sorgsam musterten. »Entschuldigt, ich musste nur dieses wunderschöne Tattoo von Elaine anstarren.«

Daniel und Noah richteten ihren Blick auf die schlichte schwarze Uhr und Elaine richtete umgehend ihren Ärmel neu. Dass die Tätowierung zu sehen war, schien ihr nicht zu gefallen. Ich sah wie meine neue Feindin mit dem Zähnen mahlte, ehe sie wieder ein fröhliches Gesicht aufsetzte.

»Ich war Teil einer Clique, wir hatten großes Interesse an der Alice im Wunderland Geschichte.«

»Ist das so?«, hinterfragte ich umgehend und ignorierte das Ziehen in meinem Magen. Ich stützte meine Ellbogen auf dem Tisch ab und legte mein Kinn darauf. Aus den Augenwinkeln sah ich Daniels Stirnrunzeln über diese unmanierliche Geste, doch Tischmanieren waren das letzte, worüber ich in diesem Moment nachdachte. Wir befanden uns in einem normalen Restaurant, hier gab es sicher schlimmeres als eine junge Frau, die die Ellbogen auf dem Tisch hatte.

Wie eine Prostituierte, die mit an diesem Tisch saß.

Mit sechzehn war ich besessen davon gewesen, verbliebene Familienzweige ausfindig zu machen. Wer wäre das nicht gewesen, wenn man mit einer Familie geplagt war, die mich nicht akzeptierten? Ich wusste, dass die Stiesings die einzige Verwandtschaft auf der Seite meines Vaters war, doch was war mit der Seite meiner Mutter?

Wie jeder andere Teenager hatte ich meinen Sturkopf, selbst als Nathalie mir verbot, weiter nachzuforschen. Ich plünderte den Sparstrumpf, der in Wahrheit eine Geldkassette war und in der Nathalie einiges Bargeld für den Notfall aufbewahrte. All das gab ich für einen Privatdetektiv aus, der behauptete, meinen Stammbaum ausfindig zu machen. Und tatsächlich schaffte er das auch. Er fand meine von mir totgeglaubte Mutter, Alessandra Röber, geborene Meuer. Die Frau, die angeblich bei dem Feuer ums Leben gekommen war, das auch meinen Vater getötet hatte.

Kurz entschlossen fuhr ich drei Stunden mit dem Zug, um sie zu finden, mit ihr zu reden. Sie zu fragen wieso. Wieso sie abgehauen war. Wieso alle glaubten, dass sie tot war. Wieso sie mich einfach so verlassen konnte.

Doch als ich sie traf, war all das unwichtig, denn ich hatte diese wunderhübsche Frau vor mir, die mir alles und noch viel mehr versprach. Zusammen schmiedeten wir diesen abstrusen Plan, Nathalie anzulügen und Alessandra versprach, dass ihr Mann Jasper einen Freund hatte, der Papiere fälschen konnte. Damit es so aussah, als würde ich ein sechsmonatiges Auslandsjahr machen. Nicht ein einziges Mal kam mir der Gedanke, dass ich etwas Böses tat, dass ich dumm war.

Dabei war ich dumm. Naiv. Vollkommen bescheuert.

Meine Aufregung und Freude, endlich mit meiner richtigen Familie wiedervereint zu sein, verschwand, als ich erfuhr, dass Jasper und Alessandra ein Bordell und einen dazugehörigen Escort-Service führten, der den Namen »Calla« trug. Nicht nur das. Im Untergrund besaß meine Mutter ein weiteres Bordell, das nicht so freiwillige Arbeiterinnen hatte. Kinder, Jungen und Mädchen unter achtzehn, die zu Dingen gezwungen wurden, die niemand erleben musste.

Auch diese Organisation besaß einen Namen. »Alice in the Untergound«. Ein passender Name.

 
In der Gegenwart blinzelte Elaine einige Male. »Du weißt doch, wie das so ist. Man hat verrückte Freunde und tut merkwürdige Dinge.«

»Der einzige merkwürdige Freund, den Alyssa hat, bin wohl ich«, mischte sich Noah ein und lachte. Als Elaine sich zu ihm hinüberbeugte und ihn küsste, wurde das Ziehen in meinem Magen größer.

Elaine war eines der Mädchen, da war ich mir sicher. Nachdem ich es vor all diesen Jahren, mit Hilfe, geschafft hatte, Nathalie zu kontaktieren, wurden Alessandra und Jasper festgenommen. Dass Letztere seit kurzem aus der Haft auf Bewährung entlassen wurde, hatte ich schon zu spüren bekommen. Die Briefe und Blumen hatten dafür gereicht. Jetzt jedoch vor einem Mitglied zu sitzen ...

»Das kann ich mir gar nicht vorstellen«, erklärte Elaine und nahm ihren Blick nicht von mir. »Du wirkst wie ein Mädchen, das viele Verrücktheiten im Leben durch hat.«

»Ich ...«

»Alyssa besitzt genau das richtige Maß an Tugend und Unvernünftigkeit, die ein Mensch braucht«, sprang Daniel zu Hilfe und nicht zum ersten Mal musste ich dabei an einen Ritter denken, der die Prinzessin vor Unholden rettete. Daniel merkte, dass es mir nicht gut ging und handelte. Etwas, das bisher noch nie jemand für mich getan hatte, wenn man von Noah absah.

In dieser Art lief das gesamte Abendessen ab. Elaine brachte eine Spitze nach der nächsten hervor, die mich verunsicherte und verstummen ließ, was wiederum Noah verwirrte, während Daniel immer wieder versuchte, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Am Ende waren sie wir uns einig, das so schnell wie möglich zu wiederholen. Zumindest war es das, was wir uns ins Gesicht sagten, auch wenn ich ahnte, dass wir alle dasselbe dachten.
Nämlich, dass das ein einmaliges Treffen war, das nie wieder wiederholt werden durfte.

99 MalWhere stories live. Discover now