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Ich erwachte am Morgen mit höllischen Kopfschmerzen und in einem leeren Bett. Wie so oft war Noah auch diesmal verschwunden, lange bevor ich auch nur ans Aufwachen hätte denken können.
Mistkerl.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich etwas sagen sollte.«

Ich runzelte die Stirn und wagte es mich, die Augen ein Stückweit zu öffnen, nur um mir augenblicklich die Decke über den Kopf zu ziehen. Meine Cousine saß auf dem Drehstuhl, hielt eine Kaffeetasse in der Hand und grinste dreckig.

»Hast du verhütet, Schatz?«

»Wir hatten keinen Sex«, grummelte ich unter der Decke und war es leid, dieses Thema wiederholt mit Nathalie durchzukauen. Wie so viele Menschen konnte auch Nathalie nicht verstehen, dass ein Junge und Mädchen sehr wohl nur Freunde sein konnten. Es funktionierte. Seit sechzehn Jahren, wie Noah angemerkt hatte. Wir waren Freunde, würden niemals mehr sein ...

»Ich sage ja nur, dass es wichtig ist. Sonst endest du wie Mandy Baumgert.«

Stöhnend krabbelte ich auf der anderen Seite aus meinem Bett und klaubte mir einige der herumfliegenden Kleidungsstücke, um sie mir hastig überzuziehen. Vielleicht war es mir nicht peinlich, wenn Noah mich nur dürftig bekleidet sah, aber Nathalie war eine andere Sache.

Zudem ich meiner Cousine ganz sicher nicht die Brandnarben erklären würde, für die Noah nie eine Erläuterung verlangen würde. Wenn er sie überhaupt bemerkte. Vermutlich sah er gar nicht so genau hin.

»Wer ist Mandy Baum-Irgendwas?« Wie selbstverständlich nahm ich Nathalie die dunkelgrüne Tasse aus der Hand und nahm einen riesigen Schluck. Wer meinen Schlaf stört, muss eben auch mit einem Kaffeediebstahl rechnen.
»Und seit wann trinkst du entkoffeiniert?« Angeekelt streckte ich die Zunge heraus und reichte Nathalie den Becher zurück.

Ich war so unendlich müde und brauchte ein Aspirin. Dringend. Nein, noch wichtiger war eine Dusche und das Handy, das bestimmt irgendwo mit meiner Tasche in dem Chaos lag. Es sei denn Noah hatte es im Auto liegen gelassen, was unvorsichtig gewesen wäre.

Aber wer wusste schon, wie gewissenhaft er nach den Sektgläsern war, die er auf jeden Fall getrunken hatte.
Er war zwar bei Weitem nicht so hinüber gewesen wie ich, aber ...

Mir fiel der Ring wieder ein. Der Ring, der in dem Hackfleischbällchen gesteckt und den Noah wohl wieder mitgenommen hatte. Woher kam der? Wieso hatte er einen besorgt?

»Mandy ist die Tochter von einer Kundin«, erklärte Nathalie und kam hinter mir in die Küche. Sie grinste noch immer und als ich ihr erneut die Zunge herausstreckte, zwinkerte sie sogar.

Nur Nathalie Stiesing würde es einfallen, die Leichen auf ihrem Untersuchungstisch »Kunden« zu nennen. Und auch nur ihr kam es in den Sinn überhaupt von ihrer Arbeit zu erzählen. Nicht dass es mich störte.

Doch zwischen uns gab es nur wenige Grenzen und Mauern, die wir noch nicht bezwungen hatten, was unsere Beziehung so erfrischend anders machte. Mir war klar, dass Nathalie stets das Beste für mich wollte und aus diesem Grund die wenigen Regeln aufstellte. Gleichzeitig hatte ich Nathalie klar gemacht, dass ich kein Interesse an einer neuen Mutter hatte. Davon hatte ich wahrlich genug gehabt. Ich brauchte keine Mutter, sondern eine Schwester. Das war Nat.

»Sie ist 17 und schwanger. Weil sie nicht verhütet hat!«

Ich rollte mit den Augen, bediente die Kaffeemaschine und drehte mich zu Nathalie um, die noch nicht ihr Arbeitsoutfit trug, was ungewöhnlich für einen Freitagmorgen war. Für gewöhnlich war sie früher auf dem Weg zu Arbeit. Bis mir wieder einfiel, dass ...

»Du hast heute das Treffen mit den Anwälten«, ich verzog angewidert das Gesicht. »Mein Beileid.«

Es gab wohl kaum etwas Schlimmeres, als einen Morgen mit Anwälten zu verbringen. Die saßen immer nur da, in ihren Anzügen und ihren schlauen Worten und ihren Wenn und Aber.

Diesmal verdrehte Nathalie die Augen, stellte ihre Tasse in die Spüle ab und gab mir im Vorbeigehen einen Kuss auf die Schläfe. »Wenn du verheiratet bist, wirst du verstehen, dass all das es wert ist.«

»Die Liebe sind die Scheidungen wert?«, fragte ich zweifelnd. So recht glauben konnte ich das nicht.

Nathalie kniff mir in die Seite. »Nein, Dummchen. Die Liebe ist es wert, dass man es probiert. Sich fallen zu lassen. Auch auf die Gefahr hin, dass es schief gehen könnte.«

So nett diese Theorie auch klang, ich wollte sie nicht hören. Wollte mir nicht darüber Gedanken machen. Wollte nicht meinen Geist mit solchen Thesen überfordern.
Daher startete ich ein Ablenkungsmanöver.

»Ist dir schon einmal aufgefallen, dass wir uns immer in der Küche über solche wichtigen Dinge unterhalten?« Ich nahm mir die Milch aus dem Kühlschrank und holte eine Schüssel aus dem Schrank daneben.
Auch wenn die Brötchen, die Leila ohne Zweifel besorgt hatte, bevor sie zu der morgendliche Runde mit Bob losgegangen war, rochen zwar lecker, aber mir war nicht nach etwas Herzhaftem. Mein Katerkopf verlangte nach Flüssigkeiten.

»In der Küche gibt es nun einmal Essen. Das lockt uns magisch an«, antwortete Nathalie beschwingt, strich mir ein letztes Mal über die Haare und verschwand auf der Terrasse. Vermutlich um eine Zigarette zu rauchen, die sie ja nicht mehr brauchte. Nie mehr brauchte. Weil sie ja aufgehört hatte.

Konsequent sein lag nicht in dieser Familie, soviel stand fest.

Eher aus Langeweile als aus echtem Interesse durchforstete ich beim Essen meiner Cornflakes den Stapel Zeitschriften und Post, die Leila aus dem Briefkasten gefischt hatte. Manchmal fragte ich mich ja schon, wie und ob ich jemals meine Bequemlichkeit ohne Haushaltshilfe überwinden konnte und dabei verdammte ich bereits jetzt den Tag, an dem ich ausziehen und Leila verlassen würde. Vermutlich würde das tiefere Wunden hinterlassen, als die Tatsache Nathalie verlassen zu müssen.

Ein Werbeprospekt für Möbel landete direkt auf dem Müll-Stapel. Nathalie war immer kaufsüchtig, sobald sie eine Scheidung und/oder Trennung hinter sich hatte. Und noch mehr unnützen Kram, der in der Garage verstauben würde, brauchten wir nun wirklich nicht.
Das ganze Untergeschoss quoll über mit Schnick-Schnack, den wir aus dem.vorherigen Haus mitgeschleppt hatten.

Nein, danke. Ich durfte Nathalie gar nicht erst die Möglichkeit geben, sich weiter auszutoben.

Mir fiel beim weiteren Durchstöbern des Stapels ein Brief auf. Vielleicht gerade weil er so schlicht war, vielleicht aus Zufall. Weißes Briefpapier, gedruckte Schrift, kein Absender. Und an mich adressiert.

Ich meine, ich bekam häufig Post; Werbung und Zahlerinnerungen für Kleider und Bücher. Ab und an waren Briefe von Nathalies Eltern dabei, die an ihre Nichte, also mich, appellieren wollten – oder etwas in der Art. Ich las die Briefe nie und schmiss sie jedes Mal ungelesen fort. Sie hatten mich zerstört, nachdem ich dachte, das sei unmöglich geworden. Briefe konnten sie sich sparen.

Dieser Brief war anders und ich wusste auch sofort aus welchem Grund. Über der Klappe des Umschlags prangte ein Stempelbild, das unschuldig aussah.
Das Abbild der Calla. Die Blume der Trauer. In so vielen Trauersträußen vorhanden. Und gleichzeitig bedeutete sie ewige Schönheit.

Ich kannte diese Blume. Kannte sie gut. Zu gut.

Meine Finger zitterten merklich, als ich den Umschlag öffnete und das blütenweiße Kärtchen hervorholte.

  

»Alles Gute zum Jahrestag. Ich hoffe, du hast mich nicht vergessen. Lass dir die Kopfschmerzen schmecken.«

99 MalWhere stories live. Discover now