42. Mal

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»Dann sind wir ja im Einzelkinder-Club.«

Was ein dummer Spruch von mir. So unfassbar dämlich. Fast so bescheuert, wie ihm einen Kinnhaken verpassen, wenn er einem nur beim Einsteigen helfen wollte und man zu schnell herum wirbelte. Was war ich doch für eine anmutige Begleitung.

Daniel gluckste. »Da hast du recht. Ich hab mir allerdings immer Geschwister gewünscht. Und du? Wollten oder konnten deine Eltern nicht mehr?«

Das war immer der Knackpunkt bei meinen Dates. Okay, einer davon. Ich log den Jungs nichts vor, das wäre eine Vorspiegelung falscher Tatsachen. Aber die meisten wussten nach meiner Antwort nicht, was sie darauf erwidern sollten. Was das Gespräch stoppte und die Stimmung kippen ließ. Genau das hatte ich vermeiden wollten, denn Daniel machte mir Spaß.

Wie versprochen war er pünktlich vor meinem Haus aufgetaucht und Nathalie hatte mit der Nasenspitze am Fenster gehangen, um den jungen Mann unter die Lupe zu nehmen. Mit einem weißen Hemd und einer Stoffhose bekleidet klingelte er und ich kam mir nicht mehr so schrecklich overdressed vor. Wir hatten während der Autofahrt zum Restaurant über die ewig gleichen Lieder im Radio gelästert, hatten gelacht und ein wenig geplaudert. Nichts mit Inhalt, so weit waren wir noch nicht.
Im Restaurant hatte er mich auswählen lassen, welchen Wein ich wollte, was ich dankend abgelehnt hatte. Zur Abwechslung wollte ich mal nüchtern bleiben. Wollte die Anziehung zwischen uns nicht erneut auf den Alkohol schieben.

Doch wie bei jedem anderen Treffen waren auch wir auf den Punkt »Familie« gekommen.

»Meine Mutter wollte mich nicht mehr haben und ist abgehauen. Mein Vater ist tot. Ich wohne bei meiner Cousine.«

»Wie ist das passiert?«

Damit hatte ich nicht gerechnet. Die meisten anderen Dates hatten ihr Mitleid ausgedrückt, das nicht im Entferntesten echt sein konnte. Sie kannten weder meine Familie noch mich selbst. Beileid war nicht angemessen, wenn man so etwas über Fremde erzählt bekam. Es waren geheuchelte Worte und ich konnte nichts weniger ausstehen.

Ich drehte das Weinglas, in dem sich Wasser befand, am Stiel hin und her. Das Restaurant war ein nettes Fleckchen. Fast schon zu dekadent für meinen Geschmack, aber genau richtig für uns beide. Daniel kannte sich in der Haute cuisine aus, bestellte separat einen Wein für sich zu jedem Gang, diskutierte mit dem Kellner über die Zubereitungen der Speisen und all das ohne zu angeberisch zu sein.

»Ein Brand«, sagte ich nach einem tiefen Atemzug und behielt mein Lächeln bei. »Als ich noch ein Kind war.«

»Das muss schrecklich gewesen sein.« Und auch das klang aufrichtig bei ihm. Als würde er alles so meinen, wie er es sagte.

Ich nickte und lachte kurz auf. »Ich hab den ganzen Tag gejammert, weil ich meine Lieblingsbarbie nicht mehr finden konnte. Es war der vorletzte Ferientag und ich wollte sie meinen Freundinnen im Kindergarten unbedingt zeigen. Daran erinnere ich mich noch gut. An den Rest nicht. Witzig wie das Gehirn funktioniert.«

»Und wie kommt es, dass du mit deiner Cousine zusammenlebst?«

Die Antwort auf diese Frage war weitaus komplizierter, als er sich vorstellen konnte. Sie hing mit meinem eigenem Charakter zusammen. Und mit der Tatsache, dass diese Menschen, die sich vom ersten Tag an als meine »Ersatz-Eltern« aufgespielt hatten, mich stundenlang in meinem Zimmer eingesperrten, wenn ich mich nicht benahm. Ich durfte keinen übermäßigen Kontakt zu Jungs haben, auch wenn ich damals noch unter Zehn war. Ich war fast gezwungen gewesen, die Schule zu verlassen und bekam den uralten Rohrstock zu spüren, den Thomas Stiesing aufgehoben hatte.

»Sie waren recht ältlich, waren dadurch auch ein bisschen überfordert mit mir«, erklärte ich und dieses eine Mal war es in Ordnung, nicht die Wahrheit zu sagen. Es glaubte mir ohnehin niemand. Nicht Nathalie, obwohl diese mich von dort befreit hatte. Nicht Carla, die zwar so tat als ob. Einzig Noah schien zu verstehen, wovon ich sprach. Von den abscheulichen Taten, zu denen Menschen in der Lage waren zu tun.

Frauke und Thomas Stiesing waren die perfekten Vorzeigeeltern mit einem ordentlich geschnittenen Vorgarten und keinem Ärger. Sie bezahlten pünktlich ihre Steuern und meldeten mich beim Therapeuten an, als das Jugendamt das für sinnvoll empfahl. Dass ich zu dieser Zeit die Therapeutin nie zu Gesicht bekam, weil ich ständig Hausaufgaben erledigen musste oder zum Klavierunterricht sollte, interessierte kein Amt. Ich war nicht auffällig, erschien gepflegt zu allen wichtigen Terminen und nie gab es eine Beschwerde von der Schule.

Es war ein Albtraum gewesen. Verpackt als Wunderland.

An all das wollte ich jedoch nicht denken, nicht wenn ich vor einem süßen Typen saß, der mich interessiert anschaute. Viel lieber wollte ich dem wachsenden Gefühl in meinem Innern nachgeben.

»Und was war es bei dir?«, fragte ich, um endlich das Gespräch von mir abzulenken. Wir hatten ohnehin schon zu viel von mir geredet.

»Ich denke, nach einem Prachtexemplar wie mir ist es schwer, noch eins drauf zu legen.«

»Blödmann.«

Daniel zwinkerte und lehnte sich leicht über den Tisch. Die Kerze erleuchtete seine Gesichtszüge und betonte seine braunen Augen, die ihn niedlicher aussehen ließen, als er eigentlich war. Okay, nein. Er war verdammt niedlich. Ohne wenn und aber.

»Ich meine das so«, scherzte er und ich war ihm dankbar für die Aufheiterung. Ob er wusste, was er tat? »Außerdem können sie sich wohl einen weiteren Erben auch nicht leisten. Ich verprasse schon zuviel.«

So einfach konnte man eine Bombe platzen lassen.

Ich starrte ihn an und versuchte zu entziffern, was er meinte. Erben gab es von vielen Dingen und sein Job im Lotus passte nicht zu dem Image, das er mir gerade malen wollte. Was bedeuten musste, dass er weiterhin einen Witz machte.

Bevor ich zu einer Frage ansetzen konnte, sprach Daniel jedoch weiter. »Mir gehört das Lotus, falls du dich das fragst. Und mein voller Name ist Daniel Wooden. Und ja, wie die Immobilienmaklerin und die Richterin.«

»Du bist der Sohn von ... Wow. Das stellt fast meine Geschichte in den Schatten«, erklärte ich sprachlos und ließ mich gegen die Lehne des Stuhles gleiten. »Das ... überrascht mich.«

»Wieso?«, wollte er wissen und wieder trat dieses bestimmte Glitzern in seine Augen, das mir auch schon im Club aufgefallen war. Im Club, der ihm gehörte. In dem er vermutlich aus Langeweile arbeitete. Oder weil es ihm gefiel. Vielleicht auch aus Spaß, denn der Einnahmen wegen konnte es kaum sein. Ich hatte seine Chill-Out-Lounge gesehen.

Verdammt. Er war reich.

»Du wirkst nicht auf mich, als wärst du ein Sohn von so berühmten Leuten.«

Meine Antwort schien ihn erst recht zu amüsieren, denn er lachte herzhaft. »Für gewöhnlich sagen die Leute ab diesem Zeitpunkt nette Dinge zu mir.«

Ich schob eine Unterlippe vor. Es war eine alte Kindertrotzreaktion, doch sie wirkte noch heute, sobald ich mich angegriffen fühlte. »Wie du vielleicht weißt, bin ich nicht wie gewöhnliche Leute.«

»Stimmt. Schneewittchen.« Und ehe ich es wirklich realisieren konnte, hatte Daniel sich von seinem Stuhl erhoben und streckte sich, um mich zu küssen. Erst wollte ich protestieren, doch als seine Lippen meine berührten, schmolz ich dahin.

Ihgitt. Zu viel Kitsch. Doch ich kam nicht dagegen an. Er schmeckte nach dem Wein, nach seiner würzigen Soße und etwas eigenem. Ich war der Meinung, dass jeder Mensch einen eigenen Geschmack hatte, genau wie jeder einen eigenen Geruch besaß. Und egal was man tat, man konnte ihn nicht verändern.

Ich mochte Daniels Geschmack.

»Was hältst du davon, wenn wir nach dem Essen zu dir fahren?«, fragte ich an seinen Lippen und spürte, dass sich seine Mundwinkel verzogen. Ich nahm mal an, dass das ein »Ja« war.

99 MalWhere stories live. Discover now