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Niemand hätte damit gerechnet, dass ich in dieser Nacht nicht in den Armen meines bezaubernden Freundes einschlafen würde. Ich am allerwenigsten. Doch stattdessen saß ich in meinem Kleid im Schneidersitz auf dem Bett, ein großer Becher Eiscreme vor mir und davor noch mein Laptop.

Ein einziges Lied lief in Dauerschleife und begleitete mich bei der Arbeit, die mich mehrere Stunden kostete. Es war eine spontane Entscheidung gewesen, aber sie fühlte sich richtig an.

Bilder von Noah und mir flogen über den Bildschirm, formten sich unter meiner Anleitung zu einem Video, das ich mit tränenden Augen speicherte.

»[84] Antrag #99Mal!«, war die Überschrift meiner formlosen Email, die ich zusammen mit dem Video an Noah schickte, ehe ich nach zu langer Zeit vor dem Bildschirm unter die Decke kroch. Trotz der Hitze des Tages war mir eiskalt, meine Augen brannten und mein Magen zog sich bei jedem Atemzug zusammen. Begleitet vom Zwitschern der Vögel schlief ich ein.

***

Es dauerte eine Weile, bis ich wieder etwas von Elaine hörte. Da Carla in ihren verdienten Sommerurlaub geflogen war und Daniel mehr Zeit auf der Arbeit als mit mir verbrachte, nutzte ich meine Freizeit, um weitere Anträge durchzuziehen.

Auf dem Weg zu Noahs Arbeit hatte ich eines Morgens Plakate auf den Boden gelegt, auf denen mein Antrag stand. Einige Tage später hatte er eine von diesen Tassen erhalten, die schwarz erschienen, bis man aus ihnen trank. Auch dort hatte mein Antrag gestanden. Gut, ob er diesen gesehen hatte, wusste ich nicht. Es war bloß eine Hoffnung.

Genau wie das Russisch Brot, das ich auf ein Stück Pappe geklebt hatte, um es ebenfalls an ihn zu schicken.

»Willst du das Russisch zu meinem Brot sein? - A <3«

Einfallslos, vermutlich. Irgendwann verließ selbst mich die Kreativität. Doch dass er die Pakete jedes Mal annahm, gab mir noch mehr Hoffnung.

»Aly?«, rief Nathalie an einem Mittwochmorgen und schläfrig erschien ich in der Küche, die Haare unordentlich zurück gestrichen, die Kleidung und das Gesicht vom Schlaf verknautscht. Ich hatte tief und fest geschlafen – dank der Medikamente, die mir neuerdings verschrieben wurden. Es war zu anstrengend geworden, Nächtelang nicht zum Schlafen zu kommen und tagsüber wie ein Zombie durch die Gegend zu wandeln. Zudem ich dringend jemanden zum Reden gebraucht hatte. Ein Therapeut erschien da als der logische Schritt.

»Eine Zeitungsanzeige? Wirklich? Sicher, dass das nicht zu ...« Nathalie stoppte und schaute erneut auf ihre Tageszeitung hinunter.

Ich runzelte die Stirn, tapste zur Kaffeemaschine, bevor ich meiner Cousine die Zeitung abnahm. Kaum zu fassen, aber ich hatte vollkommen vergessen, dass ich eine Anzeige aufgegeben hatte.

»Noah – Willst du mein Romeo sein? Heirate mich! Herz – A. #99Mal«

Kurz und knackig. Mehr hatte ich nicht gewollt, zumal das schon teuer genug gewesen war. Wer hätte gedacht, dass Zeitungen so viel Geld mit ihren Anzeigen verdienten.

»Zu was ist?«, kam ich auf Nathalies angesprochenes Thema zurück und runzelte die Stirn. »Du findest eine Anzeige in der Zeitung zu übertrieben?«

Meine Cousine zuckte mit den Schultern und bereute ziemlich offensichtlich, etwas gesagt zu haben.

»Du überarbeitest dich, finde ich.«

Da ich ihr ansah, dass da noch etwas kommen wollte, trank ich nur weiter meinen Kaffee. Und ich behielt Recht.

»An den falschen Dingen.«

Dass sie meine fehlenden Bewerbungen meinte, war klar. Als ich den Job im MoonHour angenommen hatte, musste ich ihr versprechen, mir trotzdem die Zeit zu nehmen, nach einer echten Zukunft zu suchen. Nach einem Studienplatz. Nach einer Ausbildung. Nach irgendetwas. Stattdessen verbrachte ich meine ganze freie Zeit mit Anträgen oder mit dem Aufholen meines Leserückstands.

»Dr. Hacke meint -«, erklärte ich, »dass es für mich besser wäre, nur das zu tun, worauf ich wirklich Lust habe.«

Nathalie seufzte noch einmal, schnappte sich dann ihren Thermobecher. »Vielleicht solltest du langsam die Lust entwickeln, eine Zukunft zu haben, für die es sich lohnt.«

»Danke, Nat«, rief ich ihr hinterher und wusste, wie sinnlos das war.

Dass sie mich nicht unterstützte, trübte meine Laune etwas. Doch nichtsdestotrotz suchte ich mir einen Luftballon-Großhandel und ließ mir meinen eigenen, maßgeschneiderten Ballon herstellen. Fünffach so groß wie die handelsüblichen Ballons landete das rote Ungetüm direkt vor Noahs Haustür.

»Flieg mit mir vor den Altar, Noah. Ja? - A.«

Einige Tage danach erreichte ihn eine Flaschenpost. Die mir von Elaine zurückgebracht wurde.

»Du musst etwas ausgefallener werden, Schwester.«

Wie ich sie hasste.

99 MalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt