Traum

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DER GROße TAG kommt viel schneller als erwartet

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DER GROße TAG kommt viel schneller als erwartet. Ich stehe vor der hohen Flügeltür des Thronsaals, mein Herz klopft mir bis zum Hals. Von drinnen höre ich das Geraschel von Kleidern als sich die Gäste erheben, Musik setzt ein. Mit zitternden Händen umklammere ich den Blumenstrauß aus weißen Fresien – so wie mir Kaspian eine solche Blüte geschenkt hatte. Die Wachen an beiden Seiten der Tür sehen mich fragend an, bitten still um meine Einwilligung. Ich lächle ihnen zu und drücke den Rücken durch. Niemand ist an meiner Seite, um mich zum Altar zu führen, den Königinnen brauchen keine Begleitung – heißt es. Dennoch wünsche ich mir beinahe jemanden. Jede andere Braut würde sich vermutlich ihren Vater wünschen, doch bei dieser Hochzeit wird es keine Eltern der Braut oder des Bräutigams geben. Ich sehne jedoch Chiron herbei. Er wüsste ganz genau, was er sagen müsste, um mich zu beruhigen. Das hat er schon immer gewusst. Die Wachen sehen mich noch immer an. Einen Moment schließe ich die Augen und atme tief durch, dann nicke ich ihnen leicht zu. Die schweren Türflügel öffnen sich und ich beginne meinen Gang. Langsam, einen Fuß vor den anderen setzend. Mein Blick schweift über die Anwesenden hinweg nach vorne – und dort steht er. Erwartungsvoll sieht er mir entgegen, lächelnd. Mein Herz schlägt augenblicklich Purzelbäume. Plötzlich höre ich hinter mir leises Aufkeuchen, doch ich lasse mich nicht von Kaspian ablenken. Als er die Stirn krauszieht, wage ich jedoch einen Blick über die Schulter. Die beiden Wächter sind zusammengesackt, Pfeile ragen aus ihren Rücken. Ich bleibe an Ort und Stelle stehen, die sanften Klänge der Musik ersterben. Schwere Schritte vieler bestiefelter Füße sind stattdessen zu hören, Grölen. Rauch wabert durch den Gang und tastet sich nach und nach in den Saal vor. Die Anwesenden scheinen wie erstarrt, kein Laut kommt von ihnen, niemand rührt sich. Dann erscheint die Silhouette eines großen Mannes in der Tür, sein Gesicht taucht aus dem Rauch hervor. Ich habe mich noch nicht wieder bewegt, jetzt tue ich es. Der Blumenstrauß entgleitet meinen Fingern, ich wirble herum und renne mit gerafftem Rock auf den Altar zu. Kaspian steht noch immer dort und redet auf die Gäste ein, sie sollen Ruhe bewahren. Auf meinem Weg begleitet mich düsteres Lachen. Ich laufe schneller, doch das Kleid wird immer schwerer – als würde es sich mit Wasser vollsaugen – und macht jeden Schritt zu einer neuen Herausforderung. Nicht mehr weit von Kaspian entfernt komme ich ins Stolpern. Ich halte mich an einer der Sitzbänke fest. Schwer atmend sehe ich an mir hinab. Der einst blütenweise Rock des Kleides ist nun rot wie Blut, genauso wie der Boden. Die Hochzeitsgäste in den Reihen, die ich bereits hinter mir gelassen habe, sind im Rauch verschwunden und die graue Nebelwand gleitet mir lautlos entgegen – und mit ihr noch etwas viel Schlimmeres. Ich fasse mir ein Herz und renne weiter. Ich strecke bereits die Hände nach Kaspian aus, da sirrt ein Pfeil an mir vorbei und trifft ihn mitten ins Herz. Unsere Blicke treffen sich, er sinkt auf die Knie nieder und ich stürze gerade noch rechtzeitig zu ihm, um ihn aufzufangen. Tränen verschleiern meine Sicht als ich seinen Kopf auf meinen Schoß bette. Er hat die Augen zur Decke erhoben, sein Lächeln ist verschwunden...er ist fort. Mein Herz fühlt sich an, als würde es zu Eis erstarren und langsam zersplittern. Der Pfeil in Kaspians Brust ist aus dunklem Holz gefertigt und schwarze Federn zieren sein Ende. Meine Tränen fallen unaufhörlich und ich nehme kaum Notiz von der Gestalt, die neben mich tritt. Ich sehe nur noch Kaspians Gesicht inmitten des Blutrots, das nun mein ganzes Kleid bedeckt...


Mit einem erstickten Aufschrei schrecke ich hoch. Schwer atmend streiche ich mir über das Gesicht und starre ins Nichts. Um mich herum ist es dunkel, doch die Umrisse der Möbel sind gerade so erkennbar. Es ist noch früh, vermutlich die Zeit der dritten Wachablöse. Da an Schlaf sowieso nicht mehr zu denken ist, schlage ich die Decke zurück und laufe barfuß zum Fenster hinüber. Draußen verschwindet der Mond nach und nach am Horizont, der Morgen eines neuen Tages zieht herauf. Ein Tag, das klingt, als wäre er wie jeder andere. Dabei ist heute der letzte Tag, an dem ich einfach nur ich bin, Luna. Ein Mädchen, das in den Wäldern der weiten Lande aufwuchs, Seite an Seite mit Zentauren, sprechenden Tieren, Dryaden, Wassergeistern, Satyrn und Minotauren. Das bis vor wenigen Jahren ein einfaches Leben führte, andere Menschen scheute und sich deshalb nur selten in Dörfern oder Städten zeigte. Ein Mädchen, das die Kunst des Kämpfens erlernte und bald an der Seite eines Prinzens und vierer Königinnen und Königen in einen Krieg zog. Das miterlebte, wie die zweite Schlacht von Beruna gewonnen und Narnias neuer König gekrönt wurde, wie Frieden einkehrte und Narnianen und Telmarer lernten, neben- und miteinander zu leben. Ein Mädchen, das seinen König auf die größte Reise jeher begleitete und dabei nicht nur neue Freunde, sondern auch die große Liebe fand – und seine wahre Herkunft. Bei diesem Gedanken lächle ich leicht. Ja, ich habe auf der Morgenröte viel gelernt, Freundschaften geschlossen, ein Herz gewonnen...und doch habe ich auch etwas verloren. Reepicheep werde ich vermutlich niemals wiedersehen, denn Aslan sagte, es gebe kein Zurück. Natürlich freue ich mich für meinen kleinen Freund, niemand hat es mehr verdient, sein Glück in solch einem großen Abenteuer zu finden, aber ich vermisse ihn schrecklich und das werde ich auch immer – ein Platz in meinem Herzen ist der großen Maus stets gewiss. Was meine Herkunft betrifft, meine Eltern...so bin ich wohl keine Prinzessin wie sie erwartet hätten, im Grunde fühle ich mich überhaupt nicht wie eine solche. Adeline, ja, sie ist wahrlich das Bild einer Prinzessin und eines Tages wird sie gut über Archenland herrschen. Ich jedoch werde nicht nach Merenia zurückkehren, nicht jedenfalls, um zu herrschen. Die Welt unter Wasser ist mir fremd und wird nie denselben Stellenwert wie Narnia haben. Das ist auch gut so, denn schließlich hat Aslan den Weg gezeichnet, den ich gehe. Und morgen, ja, morgen betrete ich einen gänzlich neuen Abschnitt davon.


Mit einem leichten Kopfschütteln schiebe ich diese Gedanken beiseite. Heute ist für mich der letzte Tag ohne Pflichten und Aufgaben, deshalb sollte ich meine Freiheit noch genießen. Und das werde ich auch. Ohne noch länger am Fenster zu stehen und in Melancholie zu schwelgen, kleide ich mich an und verlasse bald darauf meine Gemächer. Ich lenke meine Schritte schnell und leise zu den Stallungen. Es dämmert langsam und das Schloss erwacht. Glücklicherweise begegne ich auf den Gängen lediglich einigen Wachen und betrete unbehelligt den Pferdestall. Viele der Tiere schlafen noch ruhig in ihren Boxen, andere kauen zufrieden auf dem frischen Gras herum, das die Stallburschen täglich bringen. Donnerwinds und Dalias Boxen liegen direkt nebeneinander. Die schöne Stute schläft, während der stolze Hengst bereits leise schnaubend den Kopf über die Boxentür streckt.

» Guten Morgen, mein Junge «, begrüße ich ihn und streiche ihm über die Nüstern. Donnerwind stupst mich sanft an der Schulter und sieht mich geduldig an. Ich lächle verschmitzt, er weiß genau, was nun gleich folgen wird. Also lasse ich ihn nicht länger warten und öffne die Box. Der große Hengst schabt mit den Hufen über das Heu am Boden, rührt sich jedoch noch nicht von der Stelle bis ich mich auf seinen Rücken geschwungen habe. Zaumzeug und Sattel brauchen wir nicht, denn heute reiten wir wie früher lediglich mit einer Satteldecke los. Kaum sitze ich oben, setzt sich Donnerwind in Bewegung. Zunächst geht er im Schritt, bis wir die Stallungen verlassen haben und verfällt draußen auf dem Hof rasch in einen Trab. Das Tor steht bereits offen und entlässt uns in die weite Ebene Narnias hinaus. Das brave Tier sprengt bald in Richtung des Großen Flusses und zu der Furt, die dem Schloss am nächsten und an dem dieser recht einfach zu überqueren ist. Auf der anderen Seite beginnt nach einer kurzen Wegstrecke in hohem Gras der Wald. Ich genieße den Wind im Gesicht, den Geruch von Gras, Wald und Meer in der Nase und das unbeschreibliche Gefühl der Freiheit auf dem Pferderücken. Donnerwind scheint es genauso zu gehen. Er wiehert ausgelassen und rennt beinahe mit dem Wind um die Wette. Es dauert auch nicht mehr lange, da tastet sich die Sonne am Himmel empor – Donnerwind und ich beobachten ihren Aufgang von unserem Lieblingsplatz aus. Einer der Seitenarme des Großen Flusses hat eine tiefe Schlucht durch ein hügeliges Waldstück gegraben. In der Nähe eines Wasserfalls entstand dadurch eine Plattform, von der aus man den tiefer liegenden Wald überblicken und den Sonnenball hinter den fernen Bergen am Horizont aufgehen sehen kann. Während das Wasser unten zwischen den steilen Felswänden hindurchrauscht, stehe ich auf jener Plattform – Donnerwind neben mir – und beobachte das Farbenspiel, welches das Erwachen des neuen Tages begleitet.

Die Reise des Löwen | Eine narnianische GeschichteWhere stories live. Discover now