Anderer Meinung

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Die Gastärzte sahen sich die OP aus dem Vorzimmer an und Louis vergaß schnell, dass sie da waren. Konzentriert half er seinem Chef dabei, das lädierte Gelenk des Patienten wieder zu richten und stellte erstaunt fest, dass er nicht mehr ganz so unkoordiniert war, wie noch vor einigen Wochen. Sicher griff er zum richtigen Besteck und half genau so mit, wie Harry es brauchte. Er musste ihn kaum korrigieren, was zur Folge hatte, dass sie sich nebenbei sogar ein wenig unterhalten konnten. „Wo findet denn das Abendessen statt?", fragte Louis über das quietschende Geräusch des Bohrers hinweg, das von den Wänden widerhallte. „Ich habe einen Tisch in Perrys Steakhouse gebucht. Das ist ein recht schickes Restaurant, in dem man aber nicht das Gefühl hat, vor lauter Eleganz nicht laut sprechen zu dürfen. Waren Sie schon mal dort?" Die grünen Augen hinter der OP Brille huschten kurz zu Louis hin und sahen ihn an, doch er schüttelte den Kopf: „Nein, das hat sich bisher noch nicht ergeben", sagte er und sah wieder auf seine Arbeit. „Nun, dann ergibt es sich heute für Sie. Wir treffen uns um 20:30 Uhr dort vor dem Eingang. Sehen Sie bitte zu, dass Sie pünktlich sind, wir wollen einen guten Eindruck hinterlassen, nicht wahr? Wir werden deswegen heute auch schon um 18:30 Feierabend machen, sonst wird das alles ein wenig knapp." Harry schien sich im Kopf schon einen genauen plan zurechtgelegt zu haben, Louis hingegen hatte das Gefühl, dass das alles ein wenig knapp bemessen war. Zwar wusste er nicht genau, wo sich das Restaurant befand, doch würde er erst um 7 Uhr zuhause ankommen. Sollte Niall den Anzug nicht gefunden haben, könnte er dezent in Zeitverzug kommen. Um auf jedes Szenario vorbereitet zu sein, überlegte sich Louis während dem Rest der OP schoneinmal, was er anziehen könnte, sollte er den Anzug nicht finden.

Oder wo das Bügeleisen war, sollte das Kleidungsstück zerknittert sein. Hatten sie überhaupt ein Bügelbrett?

„Tomlinson, Sie können die Zange jetzt wegnehmen", sagte Harry eindringlich und Louis schreckte hoch. Hatte er das etwa schon mal gesagt und er hatte es überhört? „Ja Sir", sagte er schnell und legte sein Besteck weg, sodass man die kleinen Schnitte vernähen konnte.

Draußen im Vorraum legten sie ihre OP Kittel ab, desinfizierten sich nochmal die Hände und Unterarme und traten dann wieder hinaus.

„Das war ein sehr guter Eingriff", lobte der Arzt aus den USA und einer der Inder erkundigte sich neugierig nach einem Faden, den sie verwendet hatten und der ihm unbekannt war. Der Deutsche hingegen sagte wenig und sah deutlich irritiert aus. Nachdem Harry die Fragen der Kollegen beantwortet hatte, meinte er: „Darf ich fragen, wieso Sie ihren Assistenten so früh an die Patienten heranlassen? Fürchten Sie nicht, dass etwas schiefgehen könnte?" Dabei sah er herablassend auf Louis hinunter, der sich sehr zusammennehmen musste, nicht beleidigt auszusehen. Was glaubte der Typ eigentlich? Er war der beste seines Jahrgangs, da war es doch wohl das Mindeste, dass man ihn forderte. Zumal Harry, wie Louis mittlerweile erkannt hatte, immer genau wusste, was er ihm zutrauen konnte. Seine Hand in der Kitteltasche hatte sich geballt und er biss die Zähne zusammen, sah Harry an und wartete darauf, dass er antwortete. Der Arzt nickte langsam und sagte dann: „Ich kann Ihre Bedenken durchaus verstehen Dr Ritz, allerdings ist Mr Tomlinson der beste Student in seinem Jahrgang und hat sich in den ersten Tagen seiner Zeit hier in der Klinik als äußerst lernwillig und ehrgeizig erwiesen. Ich vertrete die Meinung, dass man die jungen Leute fordern muss, solang sie noch formbar sind und daher überlasse ich ihm die Aufgaben, von denen ich überzeugt bin, dass er sie bewältigen kann." Der deutsche Arzt schien diese Meinung keineswegs teilen zu wollen und schüttelte nur den Kopf. Einer der Inder, der wohl ahnte, dass zwischen den beiden Männern die Wogen geglättet werden mussten, schritt ein und sagte: „Meine Herren, wir sind wegen neuer OP Methoden hier und nicht, um uns über die Behandlung unserer Assistenten auszutauschen."

Obwohl das Thema heute nicht erneut zur Sprache kam, hatte er Louis die Laune verhagelt, dass der Arzt der Meinung war, dass man ihn nicht so schnell fördern sollte und deswegen hielt er sich bis Feierabend zurück und sprach sehr wenig.

Seine Laune hob sich erst wieder, als er um 18:25 Uhr in den Aufenthaltsraum kam und dort Niall beim Essen traf. „Hey, da bist du ja. Ich hatte dir ne SMS geschickt", sagte der Ire, sprang auf und ging schnell zu seinem Spind. Er zog einen Kleidersack heraus und Louis wurde das Herz leicht. „Du hast ihn gefunden?", fragte er und öffnete den Reißverschluss. Tatsächlich hing sein Anzug darin und er sah gut aus. „Hast du ihn gebügelt?" - „Seh ich so aus? Natürlich nicht. Der war noch so. Vermutlich hast du ihn nicht mehr benutzt, seit er aus der Reinigung wiederkam. Wann hattest du den letztes Mal an?" - „Ich glaub auf der Hochzeit meiner Mum." - „Ist ja auch schon eineinhalb Jahre her", grinste Niall und gab Louis den schweren Kleidersack. „Wieso brauchst du den denn so dringend? Ist Harry doch schwul und du willst ihm einen Antrag machen? Denkst du nicht, dass du da etwas voreilig bist?" Erschrocken drehte sich Louis zur Tür um, um sicherzugehen, dass niemand hereinkam. „Bist du irre? Nein! Harry hat heut Abend ein Geschäftsessen mit diesen Gastärzten und ich soll mitkommen. Und das ist wohl in einem sehr noblen Restaurant. Er sagte ich solle einen Anzug anziehen." Bei jedem Wort hellte sich Nialls Gesicht ein wenig mehr auf und zum Schluss grinste er breit: „Dann sieh zu, dass du bombastisch aussiehst...du musst ihn beeindrucken. Immerhin wissen wir schon mal, dass er keine Kinder hat." - „Wer hat keine Kinder?" Die beiden fuhren herum und sahen sich Zayn gegenüber, der gerade in den Raum kam. „Harry.", sagte Niall und Zayn sah leicht irritiert aus „Natürlich hat er keine. Er hat ja gestern erklärt wieso. Und selbst wenn er....könnte, dann bräuchte er dazu eine Frau. Wenn ich ehrlich bin, dann hab ich ihn auch noch nie mit einer gesehen", überlegte Zayn, "wir hatten mal eine Weihnachtsfeier, da durfte jeder seinen Partner mitbringen. Harry war der einzige, der allein kam. Schade eigentlich." Louis schüttelte leicht den Kopf und hoffte, dass Niall sie jetzt nicht mit seinem Gequassel in eine ungünstige Situation manövrierte. Der lachte jedoch und meinte: „Ha, vielleicht ist er ja schwul..." Der dunkelhaarige Pfleger dachte einen Moment nach, dann zuckte er mit den Schultern und sagte nur: „Könnte natürlich auch sein...Louis kann das ja austesten." Er klang dabei ein wenig abwesend, als sei er in Gedanken irgendwo anders und deswegen entging ihm auch, dass Louis rot geworden war und rasch seine Sachen zusammenpackte. So nett Niall war, wenn er ihm half seine Sachen zu finden oder ihn bekochte, so gerne würde er ihn ab und an gegen die Wand klatschen, dafür dass er so ein vorlautes Mundwerk hatte.

Six Months • Part Iحيث تعيش القصص. اكتشف الآن