Nettes Gespräch

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„Darf ich fragen, wie Ihre Zeit als Assistenzarzt war?", erkundigte sich Louis wenig später, als gerade zwei Tassen vor ihnen abgestellt worden waren. Mr Styles trank einen Schluck und dachte kurz darüber nach, dann sagte er: „Wenn Sie es genau wissen wollen: es war die Hölle. Mein Oberarzt war ein Genie auf seinem Gebiet, aber menschlich gesehen, das größte Arschloch, dem ich jemals begegnet bin. Er hat es geliebt, die Leute auflaufen zu lassen und zeigte sich in keiner Weise hilfsbereit. Er vertrat die Meinung: wer Arzt werden will, muss genug Wissen haben, um sich selbst helfen zu können. Fragen durfte man nur im äußersten Notfall stellen – und ein Notfall war nur dann, wenn ein Patient im OP gerade dabei war zu versterben. Sie können sich also vorstellen, dass diese drei Jahre für mich sehr stressig, aber auch sehr lehrreich waren. Ich habe mir einiges von seiner Arbeitsweise abgeguckt und für mich übernommen. Aber ich habe mir immer geschworen, zu meinen Assistenzärzten netter zu sein, als er es bei mir war." Wenn Styles' Oberarzt von ihm als Arsch bezeichnet wurde und er selbst sich gegenüber Louis manchmal so unberechenbar und gemein verhielt, dann musste der ja wirklich schlimm gewesen sein, dachte Louis und nahm einen Schluck von seinem Espresso. „Manchmal ist eine harte Schule aber auch ganz gut. Einen Mentor zu haben, Jemanden, der einen inspiriert, ist wichtig. Man erlebt oft so viele Rückschläge in unserem Beruf, da tut es gut, dass man Jemanden hat, an dem man sich orientieren kann." Louis nickte und sagte nichts. Er war noch immer verwirrt, weil er gerade hier mit seinem Oberarzt saß und ein für ihre Verhältnisse privates Gespräch führte. Wie war es dazu gekommen? Gerade hatten sie doch noch im OP gestanden. „Ich bezahle mal und dann machen wir uns auf den Rückweg. Wir haben noch zwanzig Minuten bis zum Schichtbeginn." Mr Styles erhob sich und Louis kramte rasch nach seinem Geldbeutel: „Warten Sie, dann gebe ich Ihnen das Geld für meinen Kaffee gleich mit..." - „Lassen Sie das, ich bezahle." - „Nein, Sie müssen mich nicht einl-", wollte Louis protestieren, doch der Arzt hob eine Augenbraue und blinzelte ihn durch seine Brille hindurch an: „Ich werde es auch bestimmt nie wieder tun, das verspreche ich Ihnen." Und dann tat er etwas, was Louis vollkommen durcheinander brachte: er zwinkerte ihm zu und ging dann mit federnden Schritten davon.

Den Rückweg brachten sie Schweigend hinter sich, was allerdings eher daran lag, dass Louis vor lauter Verlegenheit nicht so recht wusste, was er sagen sollte und lieber auf seine Füße sah, bis sie im Krankenhaus angekommen waren. Dr Styles zeigte Louis das Bereitschaftszimmer, das den Charme eines Jugendhostels hatte und in dem zwei Stockbetten standen. „Ab 22 Uhr können wir hier schlafen, wenn man uns nicht braucht, ansonsten sind wir die ganze Nacht auf. Ich rate Ihnen, jede Minute zu nutzen in der Sie entspannen können, denn mit der Ruhe kann es hier mit einem Schlag vorbei sein. Wo wollen Sie schlafen?", fragte er dann und deutete ausladend auf die Betten. „Im linken oben." - „Wie Sie möchten. Ich darf Sie allerdings darauf aufmerksam machen, dass diese Leitern nicht sonderlich leicht zu überwinden sind, wenn man aus dem Schlaf gerissen wird." Louis musterte die schmale Metallleiter an der Seite des Bettes und zuckte die Schultern: „Ich konnte als Kind immer gut klettern, ich glaube, das bekomme ich hin." - „Wie Sie meinen", sagte Dr Styles und grinste dabei verschmitzt. In diesem Moment flog die Tür auf und der Pfleger Zayn Malik kam herein: „Sind Sie schon im Dienst, Dr? Ich hätte da einen Notfall", keuchte er und als der Oberarzt nickte, ging er mit schnellen Schritten den Flur entlang. Während sie zu dritt ins Bettenhaus gingen, berichtete Zayn rasch und wuselte ihnen voran die Treppe hinunter. „Es geht um Miss Hatton. Sie sollte heute entlassen werden und ist jetzt wohl recht ungünstig gestürzt. Sie klagt jetzt über Schmerzen im operierten Knie. Ich bin jetzt nicht ganz sicher, ob da im Knie noch alles heil ist." Zayn sah regelrecht besorgt aus und kaute auf seiner Unterlippe herum. „Also normalerweise geht da so schnell nichts kaputt, die neue Plastik ist anfangs noch sehr stabil", überlegte der Arzt und trat durch die Tür, die Zayn ihm aufhielt.

Die Patientin saß ein wenig geknickt auf ihrem Bett im Zimmer 1.86 und sah auf, als die drei Männer hereinkamen. „Dr Styles, entschuldigen Sie, dass ich Ihnen nochmal Umstände bereite, aber ich weiß nicht, ob ich heute nach Hause kann. Mein Knie tut wirklich weh", jammerte sie, noch bevor man überhaupt Fragen hatte stellen können. „Wie ist denn der Unfall passiert? Waren Sie dabei Mr Malik?", fragte der Arzt und bat dann die Patientin, ihre Schiene und die Hose abzulegen. Zayn schüttelte rasch den Kopf: „Nein, ich war gerade im Nebenzimmer, da hörte ich es nur kurz rumpeln und dann hat Miss Hatton auch schon gerufen." - „Ich habe das Gleichgewicht auf dem glatten Boden verloren und bin mit dem Bein weggerutscht und seitdem zwickt es ganz komisch." Sie baten die Patientin, sich wieder ins Bett zu legen, dann beugte der Oberarzt das Knie vorsichtig und zog am Unterschenkel. Das Bein blieb fest und stabil, was bedeutete, dass zumindest das neue Kreuzband nicht wieder gerissen war. „Das sieht ganz gut aus. Schubladentest; negativ", sagte Dr Styles und notierte es sich auf einem Klemmbrett. „Sonst haben Sie keine Beschwerden? Schwindel oder Taubheitsgefühle?" - „Ein bisschen schwummrig ist mir schon", gab sie zu und sah die drei Männer entschuldigend an. Seufzend richtete sich der Arzt wieder auf und wandte sich an Zayn: „Kann Miss Hatton noch eine Nacht bleiben? Ich würde mir das gerne morgen früh nochmal ansehen, nur um sicher zu gehen. Checken Sie bitte mal die Belegungspläne." Zayn nickte und lächelte der Patientin aufmunternd zu: „Das kriegen wir schon hin, machen Sie sich keine Sorgen."

Kaum war er draußen, seufzte sie und sagte: „Es ist wirklich toll, dass man hier so umsorgt wird. Haben sie vielen Dank Dr Styles." Sie schüttelte sowohl dem Arzt, als auch Louis die Hand, dann verabschiedeten sich die beiden wieder. Zayn trafen sie auf dem Flur wieder. „Sie kann bleiben. Das Bett wird erst morgen Nachmittag gebraucht", sagte er und nickte ihnen dann zu. „Schade, wenn man kurz davor ist, hier rauszukommen und dann nochmal bleiben muss", seufzte Louis und dachte daran, dass die Frau sich sicherlich schon auf ihr Zuhause gefreut hatte. „Ja, das ist aber manchmal einfach so. Sie dürfen sich nicht allzu viel mit dem Privatleben der Patienten auseinandersetzen, sonst verschwimmt die Grenze zwischen dem Beruf und dem Privaten zu sehr und das beeinträchtigt das Arbeiten. Denken Sie einfach, dass die Patienten auch unsere Kunden sind. Nur so kann man fachlich korrekt bleiben", sagte der Arzt und sah dann auf seinen Pieper, der aufgeleuchtet hatte.

Six Months • Part IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt