Aufwachen!

5.5K 772 38
                                    

Bis 22 Uhr hielt sich Louis außerhalb des Bereitschaftszimmers auf, genau wie ihm das der Oberarzt angeordnet hatte. Viel zu tun gab es nicht, außer dass er in den Zimmern nach dem rechten sah, einen neuen Zugang für eine Infusion legte und einen Patienten beruhigen musste, der davon überzeugt gewesen war, es hätte sich eine Naht gelöst.

Um Punkt 22 Uhr legte sich Louis im Bereitschaftszimmer ins obere Bett und schloss die Augen. Obwohl in der Nachtschicht deutlich weniger los war und das Licht in den Fluren gedimmt, konnte Louis nicht sofort schlafen. Er rechnete jeden Moment damit, dass sein Pieper losging, oder die Tür aufflog und er von einer Schwester gerufen wurde. Doch es blieb ruhig. Er gähnte und drehte sich auf die Seite. Das Kopfkissen war nicht sonderlich dick und die Matratze hatte sicherlich auch schon bessere Tage gesehen. Die Metallfedern bohrten sich durch die Polsterung und drückten unangenehm gegen seinen Bauch. Um ein wenig bequemer zu liegen stopfte sich Louis die Bettdecke unter den Körper und legte sich darauf, dann war es auszuhalten.

Irgendwann öffnete sich leise die Tür und als er ein Auge aufschlug, sah er Dr Styles, der sich ins untere Bett gegenüber legte. Ein wenig Licht von Draußen reicht aus, damit Louis ihn halbwegs erkennen konnte. Er legte die Beine auf die Matratze und massierte sich das linke Knie. Die Handgriffe wirkten routiniert – er machte das nicht zum ersten Mal. Was er wohl hatte?

Louis sah ihm noch eine ganze Weile dabei zu, wie er das Bein beugte und streckte und sogar einige Balanceübungen machte, indem er vor dem Bett in die Knie ging und sich wieder aufrichtete. Im Raum war es ganz still und nur die Geräusche von Außen drangen durch die Tür. Nach etwa 10 Minuten, legte sich auch der Oberarzt hin und Louis schloss wieder die Augen.

Geweckt wurde er aus dem Tiefschlaf, als sein Pieper losging.

Louis fuhr hoch, wie von der Tarantel gestochen und musste sich für einige Millisekunden orientieren. Wo zur Hölle war er? Alles sah so anders aus. Als ihm einfiel, dass er ja gerade Nachtdienst hatte und das Piepen sicherlich ein Notfall war, schwang er die Beine aus dem Bett. Leider vergaß er sowohl, dass er sich in einem Stockbett befand, als auch, dass er noch halb in die Decke eingewickelt war. Glücklicherweise waren die Stockbetten im Bereitschaftszimmer nicht sonderlich hoch, doch er landete trotzdem ziemlich unsanft und kippte der Länge nach hin, weil er durch die Bettdecke daran gehindert wurde, seinen Sturz abzufangen. „Ich habe Ihnen ja gesagt, dass es sinnvoller ist, im unteren Bett zu schlafen. Aber Sie wollten ja unbedingt klettern", sagte eine tiefe, verschlafene Stimme amüsiert und als Louis den Kopf hob, saß Dr Styles in seinem Bett und hielt ihm die Hand hin, um ihm auf die Beine zu helfen. „Ja, wollte ich, aber das war wohl eher ein Fall....", murmelte Louis und hoffte, dass man in der Dunkelheit nicht sehen konnte, wie rot er geworden war. Man war das peinlich. Er war tatsächlich direkt zu den Füßen seines Chefs gelandet. Der Pieper ging nochmal los, offenbar waren sie nicht schnell genug und Louis schälte sich hastig aus dem Stoff, warf ihn in eines der Betten und ging zur Tür. Erst auf halbem Weg, fiel ihm auf, dass Dr Styles ihm nicht folgte und er drehte sich zu ihm um: „Kommen Sie nicht mit?", fragte er und der Arzt schüttelte den Kopf: „Nein, machen Sie ruhig mal allein. Wenn Sie nicht weiterkommen, piepen Sie mich an. Aber wirklich nur, wenn Sie GAR NICHT mehr weiterwissen."

Da war es wieder – das kalte Wasser in das man ihn hier nur allzu gerne warf.

Louis nickte knapp und versuchte dabei nicht allzu genervt auszusehen, dann ging er in die Notaufnahme, denn von dort war das Signal gekommen.

„Mister Tomlinson, hat Dr Styles Sie geschickt?", fragte ein Pfleger und trat hinter einem Vorhang hervor, der die Betten in der Notaufnahme voneinander abgrenzte. „Ja, was gibt's denn?", fragte Louis und nahm die Akten mit dem vorläufigen Befund entgegen. „Junges Mädchen, hatte heute einen Tanzwettbewerb und sich dabei ungünstig das Bein verdreht. Verdacht auf Innenbandriss und Meniskusschaden, Verdacht auf Kreuzbandriss", sagte der Pfleger und deutete auf das Bett in dem die Patientin lag. Sie war vielleicht gerade 17 Jahre alt, trug ein glitzerndes Kostüm, war frisiert und stark geschminkt. Ihr Showmake-up hatte den Tränen allerdings nicht standhalten können und so zogen sich dunkle Linien von verwischtem Mascara über ihr hübsches Gesicht. „Es darf kein Kreuzbandriss sein, ich kann nicht ein Jahr ausfallen. Im Sommer ist die Meisterschaft, da muss ich mitmachen", jammerte sie und sah Louis bittend an, als hoffte sie, er könnte ihre Verletzung mit einem Fingerschnippen wieder heilen. Wenn es doch nur so einfach wäre. „Jetzt mach dir keine Sorgen. Noch wissen wir gar nicht genau, was passiert ist. Ich sehe mir dein Bein erstmal an und dann röntgen wir alles und wenn ich dann die Befunde habe, kann ich eine Diagnose stellen. In Ordnung?" Sie nickte und wischte sich über die Augen. Louis nahm das Kühlpack vom Knie und untersuchte das Gelenk, das ein wenig geschwollen war. „Wenn es weh tut, dann sag mir das bitte, ja?" Er kontrollierte die Beugung und Streckung des Beines und führte den Schubladentest durch. Bei einem gerissenen Kreuzband ließ sich der Unterschenkel nach vorne ziehen, weil die Stabilisation fehlte. Das war hier allerdings nicht möglich.

Vielleicht konnte die junge Dame ja doch an ihrer Meisterschaft im Sommer teilnehmen.

Six Months • Part IWhere stories live. Discover now