Notruf für zwei

5.4K 815 50
                                    

Der Arzt schlief, als Louis das Bereitschaftszimmer eine Stunde später wieder betrat. Das Mädchen war versorgt und würde über Nacht im Krankenhaus bleiben, damit sich auch der Oberarzt später ein Bild von ihrem Knie machen konnte.

Louis hatte keinen Kreuzbandriss feststellen können. Lediglich das Innenband und der Meniskus waren gerissen. Das bedeutete war trotzdem, dass sie sich einer OP würde unterziehen müssen, doch der Heilungsprozess war schneller. Stolz, weil er das alles allein gemacht hatte, lag Louis noch eine Weile wach und sah hinüber zu seinem Mentor.

Heute war er ein ganzes Stück weitergekommen.

Sowohl im Bezug auf den Arzt, als auch in der eigenen Entwicklung. Dr Styles mochte ihn gern, das hatte er mittlerweile im Gefühl und Louis wusste auch, dass Niall mit seiner Vermutung recht gehabt hatte; all diese kleinen Dinge, die er als gemein eingestuft hatten, waren dazu da gewesen, ihn zu testen. Dr Styles hatte herausfinden wollen, ob er sich auf ihn verlassen konnte und Louis hatte es ihm gezeigt. Vielleicht hatte er gerade deswegen heute die Patientin allein behandeln und aufnehmen dürfen. Stolz auf seinen kleinen Erfolg knautschte er sein Kopfkissen noch etwas bequemer zusammen und schloss die Augen.

Der Pieper ging erst wieder um 1:30 Uhr los und Louis brauchte dieses Mal deutlich länger, um aus dem Bett zu kommen. Er hasste den Nachtdienst jetzt schon! Ächzend und unter dem Quietschen der Metallfedern, drehte er sich auf den Rücken, angelte sich seinen Pieper und sah auf das Display, um zu sehen, von wo der Notruf gekommen war. Notaufnahme. Weil er dieses Mal im unteren Bett gelegen hatte, gelang es Louis, unfallfrei aufzustehen. Dr Styles war schon halb aus der Tür, bis Louis überhaupt in die Gänge kam, gerade noch der letzte Zipfel seines weißen Kittels wischte um die Ecke. Wie schnell konnte ein Mensch eigentlich aufstehen, fragte sich Louis als er zügig, aber doch noch ziemlich verschlafen in die Notaufnahme ging. Unterwegs richtete er sich seine Haare an jeder spiegelnden Oberfläche, an der er vorbeikam, um nicht mehr ganz wie ein Besen auszusehen. Schließlich sollte man ihn als Arzt ja ernst nehmen. „Ah Mr Tomlinson, Dr Styles ist schon beim Patienten. Ich bringe Sie schnell zu ihm", sagte eine Krankenschwester und führte Louis in einen Raum. Der Patient war ein junger Mann, der mit schmerzverzerrtem Gesicht auf der Liege lag. „Wir haben hier eine akute Entzündung des Knies. Die Operation ist sieben Tage her. Der Patient hatte in den letzten Tagen vermehrt Schmerzen. Ich vermute, es könnte sich um eine Trombose handeln. Wo genau haben Sie Schmerzen?", fragte er den Patienten, der auf die Wade deutete und die Luft einzog, als der Arzt diese anfasste und untersuchte. „Haben Sie sich die Trombosespritzen gegeben, die ich Ihnen verschrieben hatte?", fragte er und der Patient zuckte mit den Schultern: „Nicht immer. Ich kann mich selbst nicht spritzen. Das hat meine Freundin gemacht, aber die war in den letzten zwei Tagen beruflich nicht da." Der Arzt seufzte schwer und Louis sah, dass er sich sehr beherrschen musste, den Patienten nicht zu rügen, dann sagte er: „Sie wissen, dass Sie sich das selbst zuzuschreiben haben? Gut. Mr Tomlinson, bitte machen Sie eine Spritze mit Heparin fertig und spritzen Sie es in die Vene, dann legen wir nochmal eine Kompression an." Louis nickte und ging in das Ärztezimmer, wo er eine Spritze vorbereitete und einen weißen Trombosestrumpf aus einer Schublade zog. Der Patient wirkte ein wenig zerknirscht, als Louis mit einer Nierenschale zurück ins Behandlungszimmer kam und die Spritze ansetzte. Sicherlich hatte der Arzt ihn für sein Verhalten gerügt. „Sie bleiben heute Nacht noch hier. Morgen können Sie wieder nach Hause und wenn Sie es nicht schaffen, sich die Spritzen selbst zu setzen, dann kommen Sie meinetwegen einmal am Tag hierher und lassen das von einer Schwester machen. Aber lassen Sie die Spritzen bitte nicht aus." - „Ja, danke Doktor."

Das war der letzte Patient für diese Nacht und als der Wecker um 7:30 klingelte und er endlich Feierabend hatte, packte Louis seine Sachen so langsam zusammen, als ob er schlafwandeln würde. „Sie fahren mit dem Bus, oder?", fragte Dr Styles, nachdem sie beide ihre Kittel abgelegt und in den Schrank gehängt hatten. „Ja...", seufzte Louis und gähnte ausgiebig. „Kommen Sie, ich nehme Sie im Auto mit", bot ihm sein Chef an. „Oh, wow, sehr gerne. Dann muss ich nicht so lange warten." Sie wurden noch von der Frühschicht begrüßt und Louis traf sogar noch Niall auf dem Flur, der fit und ausgeschlafen wirkte. „Hey, naa was geht?", fragte der Ire und machte Anstalten, Louis abzuklatschen, doch der war zu müde, um die Hand zu heben. „Suuper. Ich bin hundemüde. Gute Nacht." - „Oh, da solltest du aber ein bisschen Gas geben, sonst verpasst du den nächsten Bus", sagte Niall im Davongehen. „Ich bringe Louis nach Hause, er muss sich nicht stressen", erwiderte Dr Styles und Niall lief vor Schreck beinahe gegen eine Tür. „Oh, na dann...hast du ja einen entspannten Heimweg...wir sehen uns heute Abend." Niall kicherte unsicher, räusperte sich dann und ging schnell davon. Obwohl Louis sein Gesicht nicht sah, wusste er, dass sein Kumpel ein breites Grinsen aufgesetzt hatte. „Dein Mitbewohner ist wohl etwas schusselig", stellte Dr Styles fest, als sie sich im Aufzug nach unten befanden. Louis lachte dabei kurz auf: „Also schusseliger als ich kann er wohl nicht sein, oder?" - „Nun, ich habe ihn noch nicht beim Nachtdienst hektisch aus einem Hochbett aufstehen sehen, aber wenn ich ihn so sehe, dann würde ich ihm diesen Abflug, den Sie gemacht haben, ebenfalls zutrauen." Er gluckste und Louis wurde rot, war zeitgleich aber auch amüsiert darüber, dass er seinem Chef offenbar eine lustige Erinnerung geschaffen hatte.

Six Months • Part IWhere stories live. Discover now