OP eines Millionenknies

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Natürlich sah auch das Knie eines Profifußballers von innen aus, wie das eines normalen Menschen. Obwohl Louis das wusste, erleichterte es ihn doch, als er auf den Bildschirm blickte und sah, was die kleine Kamera, die er führte, zeigte. „Ah, da ist ja schon das gerissene Band...", murmelte Dr Styles und sagte dann: „Gehen Sie mal zum Meniskus Mr Tomlinson, damit wir sehen, ob der auch etwas abbekommen hat." Vorsichtig schob Louis die Sonde mit der Kamera weiter, bis die helle, glatte Fläche des Meniskus zu erkennen war. Auf den ersten Blick sah es gut aus, doch dann fiel kurz vor der Kante ein faseriger Bereich auf. Auch der Meniskus war in Mitleidenschaft gezogen worden. „Das ist nicht sonderlich tief. Bitte bereiten Sie alles für eine Meniskusteilresektion vor", sagte der Oberarzt und nahm Louis die kleine Kamera ab, sodass er der OP-Schwester zur Hand gehen konnte.

Zuerst wurde das verletzte Gewebe abgetragen. Die Hände des operierenden Arztes waren ganz ruhig, während er vorsichtig mit einem Schaber den Riss glättete. Louis half mit und war zwischendurch erstaunt über sich selbst, weil er tatsächlich vergaß, dass sie hier gerade einen Fußballstar operierten, dessen Beine sicherlich in Millionenhöhe versichert waren.

Die Zeit verging wie im Flug und als die Plastik eingesetzt und die Schnitte vernäht worden waren, legte Dr Styles die Werkzeuge beiseite und wandte sich an Louis: „Sie verbinden jetzt bitte alles und legen die Schiene an, dann sind wir hier durch." Louis nickte und ließ sich von einer Schwester die Verbände anreichen, während der Arzt den OP Saal schon verließ. Er selbst folgte ihm etwa 5 Minuten später nach Draußen.

„So, jetzt haben wir noch eine Stunde Pause, dann geht's in die Nachtschicht", sagte der Oberarzt, nachdem sie sie Handschuhe abgelegt und die OP Kittel weggeworfen hatten. Aus hygienischen Gründen, war die Überbekleidung nur einmal verwendbar. „Wir sollten ein wenig an die frische Luft gehen. Heute sitzen wir immerhin die ganze Nacht hier im Gebäude. Es gibt hier in der Nähe ein kleines Café. Ich lade Sie auf einen Espresso ein. Kommen Sie mit." Er klang dabei ganz locker, als sei dies nicht die erste Einladung, die er Louis gegenüber aussprach. Dieser jedoch war verwirrt.

Was war denn jetzt los? Hatte er sich durch seinen Einsatz bei der OP nun endgültig bewiesen? Wollte der Arzt einfach nur nett sein? „Worauf warten Sie, na los." Louis schlüpfte rasch in seine Jacke und folgte Dr Styles die Treppe hinunter und durch die Eingangshalle nach Draußen.

Hinter dem Krankenhaus gab es einen Park. Der Rasen war ordentlich gepflegt und die Bäume und Büsche an den schmalen Wegen immer sauber geschnitten. Hier konnten sowohl die Patienten, als auch die Ärzte ein wenig entspannen und den Geruch von Desinfektionsmittel aus der Nase kriegen. Louis war noch nie hier gewesen und wusste nicht, dass es in dem Park auch ein Café gab. Tatsächlich war es ein wenig versteckt hinter einer Kurve und die umstehenden Bäume verdeckten den Blick auf das Hospitalgebäude. Das Café befand sich in einem kleinen Gebäude mit Glaswänden, die heute wegen des schönen Wetters geöffnet worden waren, sodass man den Eindruck bekam, sich unter einem Pavillion zu befinden. Viele Tische waren zwar besetzt, doch sie fanden einen direkt neben dem Haupteingang und setzten sich. „Der Espresso hier ist wirklich gut und hat mich so manches mal über die Nachtschicht gerettet. Das Café hat nämlich bis 23 Uhr geöffnet, müssen Sie wissen", erklärte der Arzt und hob vielsagend die Augenbrauen. „Ich trinke eigentlich gar keinen Kaffee", gab Louis zu und griff nach der schmalen Getränkekarte, die zwischen ihnen auf dem Tisch stand. „In dem Beruf wird es nicht lange dauern und Sie werden Kaffeetrinker sein. Glauben Sie mir. Ich mochte da Zeug früher auch nicht, aber nachdem ich einmal eine ziemlich heftige 48-Stunden-Schicht hatte, gehört der Espresso quasi zu mir, wie mein Doktortitel." Er schien in Plauderlaune zu sein und Louis nutzte die Gelegenheit, dass sie sich gerade in einer Privatsituation befanden und fragte: „Wollten Sie schon immer Arzt werden?" - „Ja, das war schon als kleiner Junge mein Traumberuf. Meine Familie kommt aus bescheidenen Verhältnissen und ich wollte immer mehr erreichen. Glücklicherweise war ich ein guter Schüler und konnte die A-Levels mit Bestnoten abschließen, sodass es mir möglich war, mir meinen Studienplatz auszusuchen. In Cambridge habe ich dann das Medizinstudium gemacht und nachdem ich meinen Doktortitel hatte, bin ich einige Zeit im Ausland gewesen, um Erfahrungen in den verschiedenen Bereichen zu sammeln. Ich wollte überall reinschnuppern, bevor ich mich spezialisierte." Dr Styles hob beiläufig die Hand und bestellte beim Kellner zwei Espresso, dann legte er die Hände zusammen und sah Louis direkt an: „Darf ich fragen, was Ihr weiterer Plan ist? Sie sind nur sechs Monate hier. Was soll danach kommen? Die Assistenzzeit dauert ja mindestens drei Jahre." - „Ich will ebenfalls ins Ausland, weil ich von verschiedenen Arbeitstechniken gehört habe und hoffe, dass es mir möglich ist, so viel wie möglich davon zu sehen und zu lernen, sodass ich mir für mich selbst das Beste herausziehen kann." Der Oberarzt nickte langsam und senkte kurz den Blick, als ob er über die nächste Frage nachdenken würde, dann sagte er: „Was ist Ihr berufliches Ziel?" Louis schluckte kurz. Er wusste nicht, ob er es seinem Vorgesetzten so sagen durfte. Wäre das nicht vielleicht ein wenig gemein? Er wollte der beste Kniespezialist werden, den man finden konnte und neue Methoden entwickeln, um Operationen zu verbessern und Heilungsprozesse zu beschleunigen. Aber das konnte er doch nicht gegenüber Mr Styles sagen, der momentan der Beste seines Faches in ganz Großbritannien war. Schließlich war sein Ziel ja im Prinzip, ihm den Platz als bester Kniespezialist abzuluchsen. „Sie wollen der Beste werden, habe ich recht? Deswegen zögern Sie", sagte der Arzt, der Louis Gedanken scheinbar gelesen hatte und lachte. „Sie können das ruhig sagen. Ich sehe in Ihnen keine Konkurrenz, wissen Sie, bis Sie der Beste ihres Fachs sind, bin ich vermutlich längst im Ruhestand. Wir werden uns daher sicherlich nicht in die Quere kommen. Machen Sie sich keine Sorgen. Außerdem ist es ein guter Antrieb, wenn man der beste Arzt werden will. Unser Ziel ist es, anderen Menschen zu helfen und uns stetig auf neue Dinge einzulassen. Wenn wir diesen Antrieb verlieren, weil wir aus Bequemlichkeit einrosten, dann können wir den Beruf genau so gut an den Nagel hängen."

Six Months • Part IWhere stories live. Discover now