Operationsgespräch

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Er fand seinen Mentoren bei der Visite.

Er sah sich gerade die frischen Nähte am Knie eines jungen Mannes an und wechselte dann das Pflaster aus. Als Louis anklopfte und eintrat, sahen beide Männer auf. „Ich...ich wollte nicht stören, aber ich bin mit meinen Aufgaben fertig, Doctor", sagte Louis schnell und Dr Styles nickte nur. Er klebte das Pflaster auf und wandte sich dann an den Patienten: „Das sieht alles sehr gut aus Mr. Bliss. Morgen wird sich der Physiotherapeut um Sie kümmern und Ihnen zeigen, wie Sie am besten mit den Krücken zurecht kommen." Mr Bliss schüttelte ihm die Hand und lächelte: „Vielen Dank Doctor. Haben Sie noch einen schönen Abend."

Er nickte Louis zu und gemeinsam verließen sie das Zimmer. „Bei der nächsten Patientin muss noch die Drainage gezogen werden. Das können Sie gerne übernehmen. Haben Sie das denn schon mal gemacht?" Sie gingen den Flur entlang und blieben vor einer Tür ganz am Ende stehen. Louis hatte noch nicht geantwortet, weshalb der Arzt ihn eindringlich ansah: „Also was ist, haben Sie das schon mal gemacht?" - „Ja, natürlich." Nachdem Mr Styles seinen Bericht gelobt hatte, war Louis mutiger geworden und traute sich mehr zu. Drainagen hatte er bereits bei seinem ersten Praktikum im Krankenhaus ziehen dürfen und er war schließlich kein vollständiger blutiger Anfänger mehr. „Gut, dann werden Sie das machen, während ich mit dem Patienten den weiteren Prozess bespreche. Machen Sie es so schnell wie möglich, dann ist es nicht allzu unangenehm." Natürlich war es nichts neues für Louis, dass man Drainagen schnell zog: es war wie das Abreißen eines Pflasters, das tat auch nicht so weh, wenn es schnell erledigt wurde.

Der Patient hatte die Schläuche im linken Knie. Sie sorgten dafür, dass sich nicht zu viel Wundflüssigkeit und Blut im Gelenk ansammelte und leiteten ebendiese in zwei Flaschen ab, die neben dem Patienten im Bett lagen. „Hallo, wie geht es Ihnen heute?", fragte Dr Styles, als sie in das Zimmer traten und schüttelte dem Patienten die Hand. „Gut soweit, die Schmerzen sind immer weniger, aber diese Schläuche nerven ziemlich. Wann werde ich diese denn los?" - „Heute. Mein werter Kollege wird die Schläuche ziehen und ich bespreche mit Ihnen den weiteren Verlauf." Der Arzt stellte sich neben das Bett und Louis wusste, dass er seine Aufgabe nun erledigen musste. Er zog sich Handschuhe über, löste vorsichtig die Pflaster und drückte eine Kopresse auf die Naht. Mit einer schnellen Bewegung, hatte er beide Schläuche gleichzeitig entfernt und der Patient erschauerte kurz. „War nicht schlimm, oder?", fragte Louis und hoffte, dass es schmerzfrei von statten gegangen war. Der Patient zuckte die Schultern und meinte: „Es tat nicht weh, aber das war das ekelhafteste, was ich je gefühlt habe."

Louis packte die Drainagen und die Flaschen ein und würde sie später einer Schwester zum Entsorgen geben. Dass das Gefühl nicht angenehm war, konnte er sich denken, schließlich lag ein Unterdruck auf den Schläuchen und das zog sicherlich kurz recht unangenehm. Unsicher, ob er warten sollte oder nicht, stand Louis einen Moment in der Nähe der Tür herum, entschied sich dann aber doch, die Flaschen und Schläuche loszuwerden. Draußen auf dem Flur gab er alles einer Schwester und zuckte zusammen, als er sich umdrehte und Mr Styles ihm direkt gegenüber stand. Er hatte nicht bemerkt, dass sein Mentor ebenfalls aus dem Zimmer gekommen war. „Wir haben noch drei Patienten. Das hier ist die Akte von Mrs Mackey. Bitte erledigen Sie das Gespräch mit ihr, wechseln Sie gegebenenfalls die Pflaster und besprechen Sie mit ihr anhand dieses Rehaplans, die weitere Vorgehensweise." - „Aber ich habe so ein Nachgespräch noch nicht geführt, was wenn ich etwas falsches sage?", fragte Louis und nahm die Akte der Dame entgegen. „Machen Sie sich keine Gedanken. Vor morgen Nachmittag wird sie noch keinen Schritt gehen können und daher nichts kaputtmachen. Ich übernehme die Visite morgen früh und werde ebenfalls alles besprechen. Wenn sie einen verwirrten Eindruck auf mich macht, dann weiß ich ja, dass Sie ihr Blödsinn erzählt haben." Der Satz des Oberarztes hätte witzig sein können, wenn er dabei nicht todernst dreingeblickt hätte.

Louis, der das Gefühl hatte, dass das wieder ein Test war, nickte nervös, wartete bis Mr Styles im Krankenzimmer verschwunden war, dann schlug er die Akte auf und blätterte sie durch. Rasch überflog er die Krankengeschichte der Patientin, sah sich die OP Berichte und die bisherige Medikamentengabe an. Im Kopf ging er alles durch, was er je über Knieoperationen, Kreuzbänder, Heilungsverläufe und Rehabilitation gelernt hatte. Er fühlte sich, als würde er im Schnellverfahren sein Studium nochmals Revue passieren lassen. Der Druck, keinen Fehler zu machen, war groß, gerade weil Mr Styles verkündet hatte, morgen selbst nochmal mit der Patientin zu sprechen. Vielleicht fragte er sie auch danach, wie seriös er aufgetreten war. Oh Gott, das war echt gemein. „Gut, das schaffst du. Stell dich nicht so an. Den Bericht hast du auch ordentlich geschrieben und er war zufrieden." - „Mr Tomlinson?", unterbrach ihn eine Stimme und Louis fuhr herum. Der Krankenpfleger Malik stand neben ihm und sah ihn besorgt an: „Geht es Ihnen gut? Sie sind so blass." Louis sah den dunkelhaarigen Mann im lila Schlupfkasacks reglos an, dann räusperte er sich: „Hm, ja alles gut, ich war nur eben in Gedanken." - „Keine sonderlich guten Gedanken, wie es aussah", meinte der Pfleger und hackte nach: „Sie sind sicher, dass es Ihnen gut geht?" - „Jaaah...danke. Ich muss jetzt auch weiterarbeiten." Louis drehte sich auf dem Absatz um und steuerte das Zimmer von Mrs Mackey an.

Six Months • Part IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt