37-Harry

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Zu sagen, dass ich Angst habe wäre übertrieben. Dennoch fühle ich mich unwohl in dem Wissen, dass es jemanden auf der Welt gibt, der mich tot sehen will. Dieser jemand ist nicht einmal derjenige, der den Rest meiner Familie umgebracht hat, nein, es ist eine Person, die aus lauter Eifersucht zu solchen Drohungen greift.

Grundsätzlich habe ich Mitleid mit Brendon. In seiner Welt, umgeben von einer schwarzen Seifenblase, gehören er und May zusammen. Sie soll ihn lieben, so sehr, wie er es scheinbar tut. Doch da es mich gibt, wird diese Vorstellung zerplatzt, der Verlobungsring an ihrem Ringfinger wurde von mir gekauft. Sie trägt ihn, weil sie mich liebt.

May hält noch immer zu mir, weil sie mich liebt. Es gibt sonst keinen einleuchtenden Grund, weshalb sie mich bis jetzt noch nicht verlassen hat, obwohl sie bereits sehr oft die Chance dazu hatte. Es muss wahre Liebe sein, da bin ich mir sicher.

Daher hat sie auch Angst um mich, mehr, als ich selber um mich habe. Im Schlaf hat sie immer wieder meinen Namen gemurmelt, begleitet von „Verlasse mich nicht" oder „Ich beschütze dich". Sie war im ruhenden Zustand unruhig, andauernd hat sie um sich getreten, als müsste sie sich gegen irgendjemanden wehren. Wahrscheinlich gegen Brendon, der sie selbst in ihren Träumen zu seinem Eigentum machen will.

Ich bemerke während sie im Gewächshaus arbeitet ihre Blicke, mit denen sie sich vergewissert, dass ich noch bei ihr bin. Ihre Rufe nach mir, wann auch immer sie mich aus ihrem Sichtfeld verloren hat, klingen jedes Mal aufs Neue panisch und besorgt.

May hat zwar Angst wegen meines frühzeitigen Ablebens, doch ich fürchte mich vor den Folgen, die sich an ihr auswirken werden. Es würde sie zerstören, in meine leblosen Augen zu sehen und zu spüren, wie mein Herzschlag langsam stehenbleibt. Sie wäre noch geschädigter als ich nach dem Vorfall mit meiner Familie, da die Verbindung zwischen uns stärker als irgendetwas, was ich bis dato gefühlt habe, ist. Zwischen uns besteht dieses unsichtbare Band, als würde uns das Schicksal noch immer zusammenhalten wollen.

Ihr Körper würde nur mehr eine Hülle für eine tote Seele darstellen.

Genau deshalb habe ich Angst. Ich will nicht, dass May leidet, sie verdient so viel mehr. Sie verdient einen Job, der ihr Spaß macht, einen Mann, der sie bis in die Unendlichkeit liebt, und ein erfülltes Leben.

Ich fürchte mich nicht vor dem Tod, denn ich habe nichts mehr zu verlieren. Keine Familie würde um mich trauern, denn sie alle sind nicht mehr unter den Lebenden. Mein Begräbnis würde nur von einer Person besucht werden. Nur aus einem Augenpaar würden Tränen fließen, nur ein Körper würde sich meinem Sarg zuwenden. Nur die Fingerspitzen eines Menschen würden über das polierte Holz fahren, in Gedanken an die Dinge, die dieser jemand mit mir erlebt hat.

Dieser jemand ist diejenige, um die ich so sehr Angst habe, dass ich es nicht mehr schaffe, ihr in die Augen zu sehen.

Die ganze Zeit, die ich auf irgendeinem Tisch inmitten von den verschiedensten Pflanzen verbringen muss, habe ich meinen Blick auf mein Handy gerichtet. Ich spiele irgendwelche dummen Spiele, nur, um May nicht anschauen zu müssen. Mir würde ihr trauriger, besorgter Ausdruck in meinem Herzen, das nur ihr gehört, wehtun. Mit zusammengezogenen Augenbrauen und die Unterlippe zwischen ihren Zähnen eingeklemmt wirft sie mir andauernd Blicke zu, gefolgt von Verfluchungen aller Art, weil sie ihre Arbeit ruiniert hat durch den Mangel an Aufmerksamkeit. Den ganzen Tag muss sie Blumen zu einem Strauß zusammenstecken für irgendeine Hochzeit. Irgendwer in der Umgebung von London feiert ein wunderschönes Ereignis, das zwei sich Liebende verbindet. Hoffentlich bis an deren Lebensende.

Eines Tages möchte ich auch vor dem Altar stehen, umgeben von Blumen und Gästen, die sich für mich freuen. Ich will meinen Anzug ein letztes Mal glattstreichen, bevor sich die Türen öffnen und meine baldige Frau den Gang entlangschreitet, eingehakt bei ihrem Vater, der stolz grinst. Tränen sollen sich in meine Augenwinkel drängen, weil sie so wunderschön ist und weil sie bald zu mir gehören wird. Und schließlich, wenn unsere Lippen aufeinandertreffen, soll mein Herz für einen Schlag aussetzen und die Luft in meinen Lungen steckenbleiben. Einfach, weil meine Frau nun den Nachnamen Styles trägt.

May Styles.

Verdammt, selbst in meinen Gedanken klingt dieser Name so schön. Weil jeder Mensch auf der Welt sofort wissen würde, dass sie zu mir gehört, dass sie meine Frau ist. Der erste Schritt für unsere glückliche Zukunft wäre getan, wir würden bis an unser Lebensende bei einander sein.

„Harry, hörst du mir überhaupt zu?", beendet die Stimme, die in meinen Gedanken das Ja-Wort zu mir gesagt hat, meine Fantasien und jemand schnippt direkt vor meinem Gesicht wie wild herum. Erschrocken sehe ich ihn ihre besorgt wirkenden Augen, die mich eindringlich anstarren. May steht nur einen Schritt entfernt von mir und wiederholt die Worte, die ich zuvor nicht gehört habe: „Ich habe gesagt, dass meine Schicht jetzt vorbei ist und wir nach Hause fahren können."

Ich nicke langsam und blinzele einige Mal, bevor ich sie frage: „Können wir vorher noch an einen bestimmten Ort fahren?"

Verwirrt verschränkt May ihre Arme und verlagert ihr Gewicht auf ein Bein. Sie zieht die Augenbrauen zusammen und antwortet: „Muss das wirklich sein? Ich fühle mich nicht wohl, wenn wir wahllos in der Öffentlichkeit herumfahren, schutzlos ausgeliefert an Psychopathen."

„Bitte, May. Es wäre mir wirklich wichtig, dorthin zu fahren.", flehe ich sie förmlich an, während ich von dem Tisch springe und meine Füße in Berührung mit dem Boden kommen. Ich greife nach ihrer Hand und beginne, sie Richtung Ausgang zu ziehen. „Außerdem kann Brendon uns nichts antun an diesem Ort.", füge ich hinzu, obwohl mir bewusst ist, dass es eine Lüge ist.

Dennoch lässt May sich beinahe widerstandlos hinterherziehen, vorbei an Blumen und Sträuchern. Vorbei an einem breit grinsenden Louis, der auf ein High-Five als Abschied besteht. Ich greife in ihre Handtasche, grabe durch die scheinbar unendlichen Tiefen, bis ich schließlich ihre Autoschlüssel spüre.

„Harry, kannst du mir wenigstens sagen, wohin genau wir fahren?", fragt May, ihre Stimme klingt leicht genervt, als ich auf der Fahrerseite einsteige. Sie setzt sich auf den Beifahrersitz und schnallt sich an, wartend auf eine Antwort von mir. Doch ich bin viel zu konzentriert auf mein Vorhaben, sodass ich still bleibe.

Erst, als ich auf das Gaspedal steige, mitten auf einer Schnellstraße, teile ich ihr mit: „Ich will an etwas Schönes gemeinsam mit dir denken."

Unfreeze / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt