14-May

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„Es tut mir leid, dass ich nicht auf dich aufpassen konnte.", schluchzt Harry neben mir und vergräbt sein Gesicht in beide Hände. Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, wie sein ganzer Körper bebt und das Gefühl von Mitleid macht sich in mir breit. Dennoch fokussiere ich mich auf die Straße und umklammere mit meinen Fingern das Lenkrad so fest, dass meine Knöchel weiß hervortreten. Ich höre ihm zu, wie er lauthals weint und seinen Emotionen freien Lauf lässt und immer wieder wiederholt, dass es ihm leidtut.

Obwohl ich ihn trösten will und ihm versichern will, dass alles ok ist, hält mich etwas in mir davon ab. Eine Stimme in meinem Kopf redet mir ein, dass Harry wirklich schuld an allem ist, da er mir verheimlicht hat, dass er schon eine Vorgeschichte von psychischen Störungen hat. All die Jahre hat er mir vorgespielt ein normaler, gesunder Mensch zu sein und mich somit belogen. Während ich ihm all meine Geheimnisse erzählt habe, egal, wie privat sie waren, hat er mir ein ganz wichtiges Detail seiner Persönlichkeit verschwiegen und das würde ich ihm niemals verzeihen können.

Weiters ist allein seine Feigheit schuld daran, dass ich beinahe jede Nacht durch Seitengassen schleichen muss und mich mit einem Baseballschläger verteidigen muss. Außerdem, dass ich eine kleine Waffe in meiner Handtasche versteckt halte für den äußersten Notfall. Harry hätte schon vor mehr als einem Jahr aussagen können, doch er war bis vor kurzer Zeit viel zu feig dafür. Wenn er die Identität des Mörders gebeichtet hätte, würde er schon lange wieder zu Hause sein und vielleicht schon wieder sein Studium fortsetzen.

Aber jetzt kann man die Vergangenheit nicht mehr umschreiben.

Daher biege ich noch immer schweigend in die Straße ein, in der sich unser Haus befindet, während Harry weiterhin lauthals schluchzt und weint. Ich parke direkt vor der Einfahrt in die Garage ein und stelle den Motor ab. Anschließend lege ich seufzend eine Handfläche auf seinen Rücken, wodurch er erschrocken zusammenzuckt. Er richtet sich auf und streicht sich seine langen Haare aus dem Gesicht. Somit habe ich freie Sicht auf seine geröteten Augen sowie seine fleckigen Wangen und in mir zerbricht etwas. „Du bist an seinem jetzigen Zustand schuld.", redet mir eine kleine, aber dennoch laute Stimme in meinem Kopf ein und ich muss mich beherrschen, um nicht ebenfalls in Tränen auszubrechen und ihm um den Hals zu fallen.

„Alles ist ok, Harry. Mach dir keine Sorgen um mich.", rede ich mit monotoner Stimme auf ihn ein, während ich ihm beruhigen über seinen Rücken streiche. Harry dreht sein Gesicht zu mir und beugt sich langsam über die Mittelkonsole. Doch bevor unsere Lippen aufeinandertreffen können, weiche ich zurück. Mit einem verletzten Ausdruck fragt er mich: „Wieso willst du nicht mehr, dass ich dich berühre? Liebst du mich nicht mehr?"

Schockiert lehne ich mich nach hinten und schüttele schnell meinen Kopf. „Ich könnte niemals aufhören, dich zu lieben.", erkläre ich und ziehe den Zündschlüssel heraus. Ich schnalle mich ab und öffne die Autotür, da ich er nicht mehr aushalte, in seiner Nähe zu sein. Meine Bewegungen werden von Harry gespiegelt, als ich aus dem Fahrzeug aussteige und zu dem Kofferraum gehe.

„Gut, weil ich liebe dich noch immer so sehr wie früher.", teilt er mir mit und greift nach meiner Hand. Trotz meinem Instinkt, meinen Arm wegzuziehen, verharre ich in dieser Position und starre lediglich auf unsere ineinander verschränkte Finger. Mit seiner freien Hand öffnet er den Kofferraum und holt seine Tasche sowie meine Krücken aus diesem. Anschließend setzt er fort: „Kein Tag ist vergangen, ohne, dass ich an dich gedacht und dich vermisst habe."

Seine Aussage bewirkt, dass Wut sich in meinem Körper verbreitet, wodurch ich meine Finger von seinen löse und nach den Krücken greife. Unaufgefordert nimmt Harry auf noch meine Handtasche und schließt den Kofferraum. So schnell wie möglich humpele ich weg von ihm und zische währenddessen: „Wenn du mich so sehr vermisst hättest, hättest du schon früher ausgesagt." „Weißt du überhaupt, wie schwer das für mich war?", ruft er aufgebracht und rennt mir hinterher.

Wir durchqueren den Vorgarten nebeneinander und ich merke, dass sich das Gehtempo negativ auf meine Lungen auswirkt. Meine Atmung verschnellert sich und abrupt bleibe ich stehen, damit ich mich wieder gewissermaßen ausruhen kann. „Ist alles ok?", ertönt Harrys Stimme direkt neben mir und eine Handfläche legt sich auf meine Schulter.

„Fass mich nicht an! Was ist so schwer daran zu verstehen?", schreie ich mit all meiner Kraft und weiche von ihm weg. Dies gibt meinen Lungen den Rest und ich beginne unkontrollierbar zu husten. Meine Knie kommen in Berührung mit dem Boden und meine Krücken fallen ebenfalls auf den harten Untergrund. Ich krümme mich zusammen und lege mich hin, schlagartig kommen Erinnerung in mir hoch, wie er mit einem Fuß immer wieder in meine Magengrube getreten hat. Tränen treten mir in die Augen und trotz meiner verschwommenen Sicht kann ich erkennen, wie Harry sich vor mich hinkniet. Seine Hand bewegt sich in meine Richtung, doch bevor sie mich berühren kann, stoppt er seine Bewegungen. Flehend sieht er mich an und bittet mich: „Lass mich dich anfassen, ich will dich doch nur beruhigen."

Beinahe unmerklich nicke ich, woraufhin Harry sich neben mich auf den Boden legt, ebenfalls auf einer Seite zu mir gewendet, und streicht mir liebevoll über die Wange. „Ich bin bei dir, du musst keine Angst haben.", wiederholt er wie ein Mantra, während sich sein Gesicht meinem nähert, sodass sich unsere Nasenspitzen berühren. Mein Hustenanfall hat mittlerweile aufgehört und somit ist nur mehr das Röcheln, das sich meine Atmung nennt, zu hören.

„Wir können wieder zurück zu unserem normalen Leben.", macht Harry mir flüsternd Hoffnungen und haucht mir einen Kuss auf die Lippen. Unkontrollierbar dringen Tränen aus meinen Augen und ich kontere: „Wie denn?"

Er streicht mir die Haare aus dem Gesicht und platziert seinen Mund für einen Moment auf den blauen Fleck auf meiner Stirn, bevor er mir erklärt: „Ich werde zu Therapien gehen und Medikamente nehmen. Du wirst mir wieder so sehr vertrauen, wie ich es tue und wir werden heiraten. Wir werden eine Familie gründen und alles wird wieder gut."

„Zuerst musst du mir vertrauen und mir all deine Geheimnisse erzählen. Ich will keine Lügen mehr in unserer Beziehung haben. Egal, wie schwer es dir fällt.", fordere ich und sehe in seinen Augen, wie ich dadurch einen Kampf in Harry entfache. Wahrscheinlich will er mir nichts über den Mord an seiner Familie erzählen und auch nicht, wer der Mörder ist. Doch schließlich gibt er seufzend nach und verspricht mir: „Ich werde dir alles offenbaren."

Unfreeze / h.sOnde as histórias ganham vida. Descobre agora