28-May

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„Ich bringe ihn um.", raunt Harry, während er seine Schuhe von seinen Füßen kickt und seine Jack achtlos auf einer der Kleiderhaken wirft. Ohne sich noch einmal zu mir umzudrehen, verschwindet er aus meinem Sichtfeld und anhand der lauten, stampfenden Schritte kann ich mir gut vorstellen, dass er die Stiegen hinaufsteigt. Seine Wut ist innerhalb der letzten Minuten, in denen wir zugesehen haben, wie Brendon sich aus dem Staub macht und wir anschließend das Haus betreten haben, um das vielfache gestiegen, sein Temperament macht sich an ihm zu schaffen.

Dennoch folge ich ihm seufzend, lasse mir Zeit, damit er seine Aggressionen nicht direkt an mir auslässt und noch einige Male tief durchatmen kann. „Harry, wo bist du?", rufe ich, angekommen am oberen Ende der Stufen, der Gang liegt direkt vor mir. Ich warte geduldig, bis Harry sich überwindet, seinen Standort preiszugeben. Schließlich macht er dies auch mit einem schmollend klingenden „Badezimmer".

Ich folge dem Klang seiner Stimme, bis ich vor der angelehnten, weiß gestrichenen Tür stehe, die mich von ihm trennt. Durch den schmalen Spalt kann ich seine breiten Schultern erkennen und wie sein Rücken mir zugewendet ist. Zögernd hebe ich eine Hand und forme sie zu einer Faust. Ich klopfe drei Mal mit meinen Knöcheln an dem Holz an, bevor ich frage: „Darf ich zu dir kommen?" „Ich bitte dich darum.", kommt sofort von ihm, anscheinend ohne, dass er lange darüber nachdenken musste.

Also betrete ich das Badezimmer und schließe hinter mir die Tür ganz zu. Anschließend drehe ich mich zu Harry, dessen Vorderseite mir zugewendet ist. Er sitzt auf dem Rand der Badewanne, seine Haltung lässt – wie immer – zu wünschen übrig. „Wenn du dich weiterhin andauernd so zusammenkauerst, sieht du bald aus wie der Glöckner von Notre Dame. Wir wollen doch nicht, dass du auf unserem Hochzeitsfoto aussiehst, wie mein Opa, nur noch mit Haaren auf dem Kopf, oder?", scherze ich und schmunzele, hoffend auf ein wenig Auflockerung der angespannten Stimmung.

Dies gelingt mir auch einigermaßen, als ich zusehe, wie Harry sich aufrichtet und leise lacht. „Schöner Versuch, von dem Problem abzulenken, du Möchtegern-Komikerin.", murmelt er und verdreht seine Augen. Stumm deutet er mir mit einer Handbewegung, dass ich mich ihm näher soll. Ich befolge seine nonverbale Anweisung, jedoch sehr langsam und zögerlich, da ich keine Ahnung habe, was in seinem Kopf gerade vorgeht.

„Dir ist hoffentlich klar, dass ich mehr als wütend bin auf dieses Arschloch namens Brendon.", erklärt er mir, sein Gesichtsausdruck zeigt keinerlei Anzeichen von Emotionen und macht es mir somit nur noch schwerer, ihn einzuschätzen. Harry verschränkt seine Arme und setzt fort: „Er versucht, sich an dich ranzumachen, indem er mich demütigt und mich fühlen lässt, als wäre es egal, ob ich auch schon unter der Erde verweilen würde, oder nicht. Außerdem hat sein beschissener Bodyguard mich geschlagen."

„Du darfst nicht auf ihn hören, er redet viel, wenn der Tag lang ist. Du bist mir wichtig und meine Meinung zählt hoffentlich mehr als seine.", kontere ich und stelle mich direkt vor ihn. Er öffnet seine Beine und zieht mich an der Hüfte näher zu sich. Sein Gesicht ist unglücklicherweise direkt auf der Höhe meiner Brust, sodass er nicht in meine Augen sieht, sondern sich an dem Anblick sattsieht. Während er sich über die Lippen leckt, platziere ich einen Finger unter seinem Kinn, um seinen Kopf zu neigen. „Meine Augen sind hier oben, Freundchen. Außerdem wolltest du dich über Brendon beschweren, also lass dich jetzt nicht ablenken.", fahre ich ihn halbherzig an.

„Ich weiß.", seufzt Harry und blinzelt einige Male, bevor er mich ansieht. Er schüttelt seinen Kopf und bittet mich flehend: „Kündige bei ihm." „So leicht geht das nicht.", kontere ich blitzschnell und werde sofort stumm aufgefordert, meine Aussage zu begründen.

„Brendon ist sozusagen der Anführer der Londoner Unterwelt. Er hat so viel Macht und Kontakte zu allem, dass er jederzeit eine Person verschwinden lassen kann, ohne, dass er jemals Schwierigkeiten dafür bekommen könnte. Also kann ich nicht einfach kündigen, weil er bestimmt einem von uns etwas ganz Schlimmes antun würde, wahrscheinlich dir, damit er mich dadurch erpressen kann.", erkläre ich und werde von Wort zu Wort schneller, sodass sich gegen Ende meine Stimme bereits überschlägt. Vielleicht würde Harry durch diese Unverständlichkeit nicht richtig realisiert haben, was ich soeben über verschwindende Menschen gesagt habe.

Vielleicht aber auch nicht.

„Der Typ ist sowas von fällig.", murrt Harry und steht abrupt auf, sodass ich gegen seine Brust knalle. Er will sich an mir vorbeidrängen, doch ich packe ihm an einem Ärmel seines T-Shirts und ziehe ihn wieder in meine Richtung. Ich greife mit beiden Händen sein Gesicht und sehe ihn eindringlich an, während ich ihn anfahre: „Du wirst den Typen in Ruhe lassen."

Harry öffnet seinen Mund, eine zynische und unüberlegte Bemerkung, die verletzend wirken könnte, liegt ihm wahrscheinlich schon auf der Zunge. „Sonst lasse ich dich nicht mehr meine Brüste als Kopfpolster missbrauchen.", drohe ich ihm, sein Blick gleitet sofort hinunter zu besagten Körperteilen.

Typisch.

„Aber eines Tages werde ich ihn fertigmachen.", erklärt er mir. Seine Unterlippe ist schmollend über die obere geschoben und er zieht die Augenbrauen zusammen, wodurch er seine Aussage lächerlich wirken lässt. Als ich in Gelächter ausbreche, verliert auch er seinen fragwürdigen Gesichtsausdruck und er grinst mich wie ein hoffnungsloser Idiot, der er auch ist, an. Er formt mit einer Hand eine Faust und schlägt mit dieser drei Mal gegen seine andere Handfläche, bevor er raunt: „Du traust mir etwa nicht zu, dass ich ihn windelweich schlage, oder?"

Ich schüttele schnell meinen Kopf, durch das Lachen bin ich unfähig, Worte in meinem Mund zu formen und diese auch auszusprechen. „Ich werde dich trotzdem vor ihm beschützen.", teilt er mir mit, seine Miene ist todernst und bringt mich dadurch sofort zum Verstummen.

„Pass lieber auf dich auf. Nicht, dass eines Tages nicht nur deine Wange blau ist, sondern auch deine Zähne ausfallen. Sonst muss ich dir dein Essen bald pürieren.", wehre ich ihn ab, ein scherzender Ton schwingt in meiner Stimme mit. Zum zweiten Mal in dieser kurzen Zeit verdreht er seine Augen und wendet seinen Blick von mir ab.

„In Momenten wie diesen packe ich dich nicht.", murmelt Harry, während ich mich direkt vor ihn stelle und meine Arme um seinen Hals schlinge. Ich will ihn ablenken von den schlimmen Ereignissen, die allesamt nur dank Brendon passiert sind, damit seine Stimmung nicht wieder sinkt. Denn sobald wir gestern im Auto gesessen sind, auf dem Weg zu dem Strand, war er ausgelassen und hat mehr gelacht, als ich mir im Vorhinein erwartet habe.

Also ziehe ich seinen Kopf hinunter zu meinem und frage grinsend: „Dir ist pürierte Pizza recht? Oder, wenn du gesund leben willst, kann ich dir auch deinen Salat zerschreddern."

Unsere Lippen berühren sich und ich spüre, wie Harry in den Kuss hineinlächelt. Unerwartet hebt er mich hoch und automatisch schlinge ich meine Beine um seine Taille, um Halt zu gewinnen. Er löst sich wieder von mir und bleibt mir dennoch so nahe, dass sich unsere Nasenspitzen berühren. „Solange du mich trotz pürierter Pizza noch immer so sehr liebst, wie ich dich liebe, ist mir alles egal.", haucht Harry leise und ich nicke schnell.

„Ich werde nie aufhören, dich zu lieben."

Unfreeze / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt