16-May

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Noch immer berühren sich unsere Nasenspitzen und ein Teil in mir schreit mich förmlich an, dass ich Abstand zwischen uns schaffen muss. Bilder, wie Harry zu einem unberechenbaren Psycho wird und mich mit einem Messer verfolgt, tauchen vor mir auf, als ich in seine grünen Augen sehe. Sein Blick wechselt durchgehend von meinen Lippen zurück zu meinen Pupillen und ich spüre, wie sein warmer Atem ein wohliges Kribbeln auf meiner Haut verursacht.

„Ich will dich nicht verlieren, May Richards.", wiederholt er so leise, dass beinahe kein Ton aus seinem Mund kommt, sondern lediglich seine Lippen bewegt. Dennoch höre ich ihn klar und deutlich, woraufhin ich meine Augen schließe und seufze: „Das will ich auch nicht."

Ich spüre eine warme, leicht verschwitzte Hand auf meiner Wange, die mich durch den plötzlichen Kontakt zusammenzucken lässt. Ohne, dass ich es verhindern kann, sehe ich ihn direkt vor mir stehen und mir wenig später eine Ohrfeige verpassen, da ich ihm nicht das gebe, was er will. Doch anstatt seiner widerwärtigen Stimme höre ich eine tiefe und beruhigend wirkende, während ich noch immer meine Augen zusammenkneife, wartend auf Schläge: „Du musst keine Angst vor mir haben, ich bin nur Harry, dein Verlobter."

Bevor ich ihn wieder ansehen kann, um mich zu vergewissern, dass mein Verstand mir nicht nur einen Streich spielt, legen sich weiche Lippen auf meine. Der Kuss ist so federleicht und gefühlvoll, dass mir die Luft in meinen Lungen steckenbleibt und es sich so anfühlt, als würde mein Herz für einen Schlag aussetzen. Es scheint so, als wäre alles wieder in Ordnung, jedenfalls lässt Harry es mit seinen Berührungen so wirken. Bis er eine Hand auf meiner Hüfte platziert und unabsichtlich genau auf einen meiner blauen Flecken drückt.

Abrupt löse ich mich von ihm und stoße mich schon fast panisch mit beiden Händen von seiner Brust ab. Unwillkürlich stoße ich einen gedämpften Schrei aus und reiße währenddessen meine Augen weit auf. Sofort sehe ich, wie Harrys trauriger Blick auf mir liegt und seine Arme schlaff links und rechts neben seinem Oberkörper herabhängen. Er öffnet seinen Mund, höchstwahrscheinlich, um sich bei mir für seine Tat zu entschuldigen, doch ich komme ihm schnell zuvor: „Mir geht es gut."

„Wer hat dich geschlagen?", fragt Harry leise nach, während er beide Krücken vom Boden aufhebt. Er hält sie in meine Richtung, doch macht keinerlei Anstalten, sich mir zu nähern. Abwartend verharrt er in seiner Position, als wüsste er nicht, wie er sich verhalten soll. Während ich meinen Kopf schüttele, seufze ich: „Ich wurde von niemandem verprügelt."

Ich mache einen Schritt auf ihn zu und greife nach meinen Krücken, doch schnell zieht Harry diese wieder aus meinen Händen. Erst als ich ihm wieder in sein Gesicht schaue, erkenne ich, dass sich Tränen in seinen Augen gesammelt haben. „Hör auf, mich anzulügen!", schreit er mich wutentbrannt an und schleudert meine Stützen durch den Raum, woraufhin sie mit einem lauten Knall gegen die Wand prallen. Er zeigt mit dem Zeigefinger auf mich und setzt in der selben Lautstärke fort: „Erst vor kurzer Zeit hast du mir gesagt, dass du keine Lügen in unserer Beziehung haben willst und jetzt erzählst du mir alles andere als die Wahrheit."

„Ich tue mir das alles nur an, damit es dir gut geht. Verstehe das doch endlich!", fahre ich ihn genauso laut an. Röchelnd hole ich tief Luft und huste diese sofort wieder schmerzhaft aus meinen Lungen. Einen Arm halte ich mir vor die Brust, während ich auf eine Reaktion von ihm warte.

Harry wischt sich mit einer aggressiven Bewegung die Tränen von seinen Wangen und haucht anschließend: „Aber mir geht es nicht gut, wenn es dir schlecht geht." „Dann hör doch endlich auf, dir Sorgen um mich zu machen. Ich bin es nicht wert.", zische ich und setze mich in Bewegung, um meine Krücken aufzusammeln.

„Du bist aber das Wertvollste in meinem Leben.", ruft Harry, doch ich reagiere nicht mehr auf ihn. Ich hebe seufzend meine Stützen auf und schenke ihm keinerlei Beachtung mehr. Das ganze Haus scheint komplett still, als wäre die Zeit stehengeblieben. Kein einziges Wort hallt durch den Raum, keine Schritte sind hörbar. Ich höre nicht einmal, wie Harry schluchzt, geschweige denn sich überhaupt rührt.

Bis das Geräusch von zersplitterndem Glas in meine Ohren dringt. Erschrocken drehe ich mich um, nur um den Mann meiner Träume mitten im Zimmer stehen zu sehen, inmitten unzähliger Scherben. „Sag mir doch endlich die Wahrheit.", bringt er hervor, seine Stimme ist gedämpft durch die Hände, die sein Gesicht verdecken. Sein ganzer Körper bebt durch die Schluchzer, die unaufhörlich ertönen.

Langsam schreitend nähere ich mich ihm, vergesse dabei meine Krücken, die abermals auf den Boden fallen. „Sieh mich an.", fordere ich ihn emotionslos auf, lasse das Gefühl von Chaos nicht meinen Körper und meine Seele beherrschen. Zögernd befolgt Harry meinen Befehl und entfernt seine Hände von seinem Gesicht. Anschließend lässt er die Arme schlaff an seinen Seiten herabhängen, seine Finger zu einer Faust geformt. Er hebt wie in Zeitlupe seinen Blick, aus seinen Augen fließen weiterhin Tränen.

„Beruhige dich.", setze ich fort, dieses Mal mit einer sanfter klingenden Stimme. Ich sehe ihm zu, wie er mehrmals tief ein und ausatmet. Mit jedem Schritt, den ich ihm näherkomme, weicht die Spannung aus seinem Körper, lediglich seine Brust zieht sich hin und wieder zusammen, als er weiterhin leise schluchzt. Schließlich stehe ich direkt vor ihm und traue mich dennoch nicht, ihm über die Wange zu streicheln. Ein Teil in mir hält mich davon ab, weshalb ich ihm ohne jeglichen Körperkontakt mitteile: „Ja, ich wurde von jemandem geschlagen."

Sofort spannt Harry sich wieder an und seine Brust hebt und senkt sich immer schneller. Seine Atmung grenzt an hyperventilieren, doch noch immer berühre ich ihn noch, obwohl er sich dadurch bestimmt wieder beruhigen würde. „Von wem?", stößt er zwischen zusammengedrückten Zähnen hervor und schlagartig ist sämtliche Traurigkeit aus seinen Gesichtszügen verschwunden. Nun beherrscht ihn die Wut und die Aggressionen, die in ihm wüten.

„Von meinem Boss.", antworte ich kurz und knapp und sehe beschämt zu Boden, da ich es nicht mehr ertragen kann, Harry anzuschauen. Für einige Augenblicke ist es wieder komplett still, bis er zwei Finger unter meinem Kinn platziert und somit meinen Kopf anhebt. „Wie heißt dein Boss?", fragt er weiter nach, seine Stimme ist leise und klingt dennoch gefährlich, sodass sich Gänsehaut aus meinen Armen bildet.

Ich trete einen Schritt zurück und wende mich dieses Mal endgültig von ihm ab. Sobald ich an ihn denke, schnüren sich meine Atemwege zu und ich bringe es nicht übers Herz, seinen Namen auszusprechenWährend ich aus dem Wohnzimmer verschwinde, gehorcht mir meine Stimme wieder und ich teile ihm über die Schulter mit: „Das reicht mit den Fragen für heute. Du weißt ja, wo alle Sachen sind, die du benötigst. Du schläfst heute auf der Couch oder in einem der Gästezimmer, wie du willst."

Unfreeze / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt