21-May

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„May, bist du hier drinnen?", reißt mich eine besorgt klingende Stimme aus meinen Gedanken. Ich lege die Bilder in meinen Händen auf den Boden neben mich und wische mir über die Augen und Wangen, um die Tränen von meiner Haut zu entfernen. Anschließend atme ich tief durch, bevor ich rufe: „Die Tür ist offen."

Da meine Rückseite zu dem Eingang zu diesem besonderen Zimmer gewandt ist, kann ich mich lediglich auf mein Gehör verlassen. Ich höre, wie Tür langsam geöffnet wird und wenige Momente später wieder ins Schloss fällt. Schreitende Schritte ertönen hinter mir, als Harry sich mir nähert. Dennoch drehe ich mich nicht zu ihm um und starre weiterhin auf die zahlreichen Bilder, die vor mir auf dem Teppich ausgebreitet sind.

„Darf ich mich zu dir setzen?", fragt Harry vorsichtig, woraufhin ich sofort nicke. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, wie er neben mir auf dem Boden Platz nimmt und ich bin mir sicher, dass auch er sich die Fotos bereits ansieht. Gedankenverloren wühle ich durch die Abbildungen von unserer Beziehung und traue mich nicht, mein Gesicht zu ihm zu wenden.

Er räuspert sich und bricht somit die angespannte und unangenehme Stille zwischen uns, bevor er leise murmelt: „Ich will nicht mit dir streiten." „Das will ich auch nicht. Aber anscheinend können wir nicht anders, seitdem du in die Klinik eingewiesen wurdest.", spreche ich meine Gedanken laut aus. Anschließend greife ich vorsichtig nach einem Bild und während wir beide auf dieses starren, tauchen die damit verbundenen Erinnerungen auf.

Man sieht uns am Rande einer Klippe. Das Gras unter unseren Füßen ist so grün, wie man es sonst nur in Filmen sieht und sich in seinen Träumen vorstellt. Der Himmel ist strahlend blau, keine einzige Wolke ist weit und breit zu sehen, was das Ganze nur noch kitschiger macht. Direkt hinter uns befindet sich der Abgrund und das beinahe weiße Gestein unter dem Gras kommt zum Vorschein. Zahlreiche Meter unter uns schlagen die Wellen des Meeres unaufhörlich gegen die Wand aus jahrtausendaltem Stein und machen somit das Gesamtbild der Landschaft vollkommen.

Auch wir sehen viel zu perfekt aus. Während Harry seine übliche Skinny-Jeans trägt und diese mit den beigen Stiefeletten kombiniert, die aussehen, als würden sie jeden Moment auseinanderfallen, trage ich High-Heels und ein Kleid. Allein das weiße Hemd, durch das man seine Tattoos sehen kann, und die viel zu locker gebundene Krawatte lassen darauf schließend, dass auch er an einer besonderen Veranstaltung teilnimmt. Das Stück Stoff um seinen Hals ist farblich perfekt abgestimmt auf mein hellblaues Kleid, das mir damals die Luft abgeschnürt hat aber mich dafür viel attraktiver geformt hat.

Seine Arme sind von hinten um meine Taille geschlungen und ziehen mich ganz nah zu sich, sodass ich komplett in den Duft seines Parfüms eingehüllt. Während ich, vollkommen glücklich in diesem Moment, so sehr lächele, dass meine Zähne deutlich erkennbar sind, platziert Harry einen federleichten Kuss auf meiner Wange. Seine Haare fallen ihm dabei ins Gesicht und verdecken somit die Hälfte dessen. Dennoch erkennt man, wie er seine Augen geschlossen hat und sich ein Grinsen verkneift.

Ich lege das Bild wieder auf den Boden, inmitten des Haufens, bestehend auf fotografierten Erinnerungen. „Damals sind viel zu spät auf den Schulball gekommen, weil wir die Aussicht an der Klippe viel zu schön fanden.", lächelt Harry und versucht, unauffällig näher zu mir zu rutschen. Doch mir entgeht das nicht, da seine Präsenz noch viel stärker auf mich wirkt. Ich atme zufrieden sowie entspannt seinen Geruch ein und lache leise auf.

„Damals haben alle gedacht, dass wir perfekt waren, trotz einer enormen Verspätung. Ich kann mich noch genau an die Blicke erinnern, die wir geerntet haben, als wir die Halle betreten haben.", füge ich hinzu. Wie ein kleines Schulmädchen, das es peinlich findet, seinen Schwarm zu küssen, beginnt Harry zu kichern. Mit einer Hand vor den Mund gehalten, schmunzelt er: „Alle haben gedacht, dass wir mit etwas Anderem beschäftigt waren, weil unsere Haare durch den Wind so zerzaust waren."

Während ich noch in dieser Erinnerung schwelge, greift Harry nach einem anderen Foto. Es ist eines der Ersten, die er eigenhändig fotografiert hat mit der Kamera, auf die er jahrelang gespart hat. „Kannst du dich noch daran erinnern?", fragt er mich grinsend, anscheinend schon zu vertieft in die Geschichte hinter diesem Schnappschuss.

Wieder einmal sind wir Harrys Lieblingsbeschäftigung nachgegangen. Er hat mich mitsamt meiner Schultasche zu seinem Auto gezogen, mit der Begründung, dass er seine neue Kamera ausprobieren will. Obwohl ich ihm damals versucht habe einzureden, dass er auch hier in der Nähe seiner Wohnung genügend Objekte hätte, die er fotografieren kann, ist er stur geblieben. Stundenlang sind wir durch die Gegend gefahren, auf der Suche nach einer für Harry perfekten Kulisse.

Bis wir schließlich am Strand angekommen sind. Es war so wunderschön und bezaubern, dass ich für einige Momente vergessen habe, weshalb wir überhaupt hier waren. Die Sonne ist verschwindet schön langsam am von Wasser bedeckten Horizont und färbt den Himmel orange. Das Meer ist beinahe komplett still, keine hohen Wellen stören das Szenario. Mit meinen Sneakers an meinen Füßen gehe ich langsam durch den Sand und lasse die frische Luft in meine Lungen strömen. Ich schließe die Augen, um mich voll und ganz auf die Atmosphäre um mich herum konzentrieren zu können.

„Diese Aussicht ist so wunderschön.", atme ich tiefenentspannt aus und warte darauf, dass Harry ebenfalls ein Kommentar zu dem Strand abgibt. Doch stattdessen höre ich ein Klick-Geräusch direkt hinter mir, welches mich abrupt herumwirbeln lässt. Harry senkt die Kamera von direkt vor seinem Gesicht hinunter zu seiner Brust. Mit einem schiefen Grinsen raunt er, während sein Blick auf den Bildschirm des Gerätes in seinen Händen gerichtet ist: „Du bist wunderschön."

Seufzend drehe ich den Kopf so, dass ich nicht mehr auf das Bild, sondern auf Harry schaue. Diesen kann ich nur von der Seite sehen, da er noch immer auf die Fotografie in seinen Händen starrt. Seine Mundwinkel ziehen sich leicht nach oben und er schüttelt den Kopf. „Ich wünschte, dass wir noch immer solche spontanen Aktionen machen könnten.", murmelt er und regt mich somit zum Denken an.

„Vielleicht können wir das trotz allem machen.", überlege ich laut, während mir unzählige Gedanken in hoher Geschwindigkeit durch den Kopf schießen. Abrupt drehe ich mich zu Harry und packe ihn an den Schultern. Während er nicht weiß, wie ihm geschieht, und er mich verwundert ansieht, teile ich ihm mit: „Wir werden jetzt an den Strand fahren."

Unfreeze / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt