25-Harry

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Er ist nicht hier.

Zum ersten Mal seit viel zu langer Zeit sucht er mich nicht in meinen Träumen auf. Ich erlebe nicht mit, wie er mich so breit angrinst, dass ich seine strahlend weißen Zähne sehe und sich Lachfalten in seinen Augenwinkeln bilden. Er hält keine lange, glänzende Klinge fest mit seinen Fingern umschlossen und zieht sie auch nicht über sein schwarzes Hemd, um sie zu reinigen. Das Wohnzimmer, in dem ich meine Kindheit verbracht habe, mit meinen Eltern und meiner Schwester gelacht und gefeiert habe, befindet sich nicht um mich und ist auch nicht von Blutspritzern übersäht. Ich höre keine Schreie, niemand ruft meinen Namen, auf der Suche nach Hilfe, die ich nicht leisten kann.

Es ist ruhig.

Ich atme ihren Geruch ein und kann ihre weiche Haut spüren. Mit meinen Fingerspitzen fahre ich über ihren linken Unterarm und sehe zu, wie sich dort Gänsehaut bildet. Meine Lippen finden schon beinahe automatisch ihre und es fühlt sich an, als würden wir ineinander verschmelzen. Unsere Umwelt ist beinahe still, nur in der Ferne scheint ein Radio unsere Lieblingslieder zu spielen. Es ist hell und die warmen Sonnenstrahlen fallen auf meine geschlossenen Augenlider.

Und plötzlich spüre ich eine Wölbung. Verwirrt löse ich mich von ihr und öffne meine Augen, sehe direkt in ihre. Sie nimmt beide meiner Hände in ihre, während ihre sanfte Stimme ertönt: „Wir haben es geschafft."

Ich öffne meinen Mund, irritiert von ihrer Aussage, und will sie fragen, was sie damit meint. Doch dann legt sie meine Handflächen auf ihren Bauch und ich beginne zu verstehen. „Wir können endlich die Zukunft leben, die wir uns immer ausgemalt haben.", lächelt sie und wie auf Kommando spüre ich Tritte.

Tritte unseres Babys. Eines Geschöpfes, das wir erschaffen haben, trotz aller Schicksalsschläge. Trotz seiner scharfen Messerklinge und seines dämonischen Grinsens. Trotz den Blutspritzern in dem Wohnzimmer, in dem ich meine Kindheit verbracht habe. Entgegen aller Befürchtungen haben wir die Vergangenheit hinter uns gelassen und haben das Leben gestartet, von dem wir immer gemeinsam geträumt haben.

Ich lache los, wie ein Verrücktgewordener. Doch nicht hämisch und böse, wie er es gemacht hätte. Nein, ich lasse meine Fröhlichkeit und das Gefühl von purem Glück aus mir heraus. Ich hebe meine wundervolle Frau hoch, ihre Wölbung deutlich spürbar für mich, und wirbele sie herum. Und auch ihr Lachen erfüllt die Umgebung, ihr Blick liegt auf mir, ihre Arme sind um meinen Hals geschlungen.

„Ich liebe dich!", hauche ich, wiederholend wie ein Mantra, zwischen den Sätzen platziere ich jeweils einen Kuss auf ihrem Gesicht. Auf ihrer Stirn, ihren Schläfen, ihren Wangen, ihrem Kinn und schließlich auf ihrer Nasenspitze. Veranlasst durch meine Aktionen kichert sie und eine gewisse, sie noch unwiderstehlicher machende Röte erscheint auf ihrer Haut.

Sie fährt durch die Haare, um diese aus meiner Sicht zu streichen und lehnt anschließend ihre Stirn gegen meine. „Alles ist wieder gut, wir haben es gemeinsam durchgestanden.", flüstert sie und wie auf Knopfdruck ändert sich unsere Umgebung.

Wir befinden uns auf einer Klippe, genauer gesagt dort, wo wir vor Jahren einen der Schulbälle geschwänzt haben. Doch dieses Mal trägt May kein hellblaues Kleid und ich auch keine Skinny Jeans mit einem weißen Hemd. Nein, wir sind tiefschwarz gekleidet, der Stoff um ihren Körper scheint sie beinahe zu verschlucken. Der Rock bedeckt ihre langen Beine und berührt den Boden, ein Langer Schleier ist hinter ihr ausgebreitet. Ihre Arme sind von Ärmeln aus Spitze bedeckt und der Kragen reicht ihr bis knapp unter das Kinn.

Trotz des einengend scheinenden Kleides und der bedrückend wirkenden Farbe strahlt sie noch immer Fröhlichkeit aus. Sie lächelt mich sanftmütig an und streichelt über meine Wange, fährt über meinen Hals hinunter bis zu der schwarzen Krawatte, die viel zu eng geschnürt ist. Das Stück Stoff um meinen Hals wird von ihren Fingern festgehalten und sie zieht mich näher zu sich. Für einen Moment verändert sich ihr Gesichtsausdruck zu purer Traurigkeit sowie Mitleid und sie legt ihren Kopf schief. „Aber du hast die Vergangenheit noch nicht losgelassen. Du hast noch nicht abgeschlossen.", stellt sie seufzend fest.

„Das ist nicht so einfach.", verteidige ich mich, während sie die Falten meines Hemdes glattstreicht. Ich lasse meinen Blick von ihrem Gesicht hinunter, entlang ihres Körpers wandern und bemerke sofort die fehlende Wölbung an ihrem Bauch. Unwillkürlich hebe ich eine Hand, um mit den Fingerspitzen den seidigen Stoff ihres Kleides genau an der Stelle, die meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, berühren. Als könnte sie meine Gedanken lesen, erklärt sie mir mit einfühlsam klingender Stimme: „Unsere Zukunft wird nie so sein, wie wir sie uns ausgemalt haben, wenn du nicht abschließt."

Und plötzlich kommt ein Wind auf.

Die Böe lässt ihre Haare wild herumwehen und der Schleier ihres Kleides erhebt sich in die Luft. „Dein restliches Leben kann nicht von der Vergangenheit beherrscht werden. Du darfst ihn nicht mehr zu dir lassen.", setzt sie fort und klopft mit dem Zeigefinger wiederholt auf meine Brust, um ihren Worten mehr Ausdruck zu verleihen.

Frustriert werfe ich meine Arme in die Luft und rufe laut, um den Wind zu übertönen: „Aber er hat mein Glück zerstört." „Dein Glück steht noch immer genau vor dir, er hat es lediglich für unbestimmte Zeit verhüllt und du bist der einzige, der den Schleier wieder heben kann.", kontert sie und ich bewundere ihre Ruhe. Normalerweise würde sie mich anschreien, auf und abrennen oder mir eine Ohrfeige geben. Aber dieses Mal deutet lediglich ihr Zeigefinger, der sich in meine Brust bohrt, an, dass sie langsam ihre Geduld mit mir verliert.

„Wie soll ich das machen? Ich kann doch nicht einfach meine Erinnerungen auslöschen, ich will meine Familie nicht vergessen.", forsche ich nach, auf der Suche nach Antworten. Mit jedem Herzschlag, den sie mich nur mit geneigtem Kopf ansieht und Gelassenheit ausstrahlt, wird der Wind um uns herum stärker und auch der Himmel färbt sich dank der Wolken in einem dunklen, gefährlich wirkendem grau. Tränen drängen sich in meine Augen, als ich wieder an meine Eltern denke, wie sie mich zuerst schmerzerfüllt ansehen und dann ihren leeren, toten Blick starr nach vorne gerichtet haben.

May holt mich aus meinen Gedanken, als sie jeweils eine Handfläche auf beide meiner Wangen legt und mich eindringlich anstarrt. „Du darfst deine Familie auch nicht vergessen.", teilt sie mir mit und setzt nach einigen Momenten fort: „Du sollst sie lediglich glücklich in deinen Erinnerungen behalten, nicht vor deinen Augen umgebracht. Wenn du an sie denkst, sollst du sie lachend sehen, nicht ihn direkt hinter ihnen."

Ihr Blick wendet sich von mir ab und sieht neben uns, auf die Wiese, die sich dort meilenweit erstreckt. Sie tritt einen Schritt zurück und dreht sich in die Richtung, in die sie starrt. Auch ich sehe dorthin und entdecke eine Gestalt, die Umrisse eines Menschen.

Seine Umrisse

Das Messer in seiner Hand blitzt auf und trotz der Entfernung, die zwischen uns herrscht, erkenne ich seine strahlend weißen Zähne. Rein reflexartig greife ich nach Mays Hand, der Rest meines Körpers scheint vor Angst gelähmt zu sein. Meine ganze Aufmerksamkeit gilt ihm, wodurch ich nicht bemerke, dass sie mich näher zu dem Klippenrand zieht.

Hinter mir bröckelt das Gestein und ich höre, wie die Wellen brechen. „Du musst loslassen.", ertönt ihre Stimme, ihre Front noch immer ihm zugedreht. Auch habe mich schon zu ihm gewendet und erkenne zu meinem Unglück, dass er sich in Bewegung gesetzt hat. Er kommt direkt auf uns zu und wieder redet May auf mich ein: „Lass dich gemeinsam mit mir fallen. Ich werde immer bei dir bleiben, du musst nur endlich abschließen."

Nur noch wenige Meter trennen mich von ihm und er hat seine Hand, in der er das Messer fest umschlungen hält, bereits gehoben. Ich höre sein grausames Lachen, während ich zu ihr blicke. Sie nickt mir aufmunternd zu und lächelt sanft, bevor sie mir noch ein letztes Mal Mut macht: „Du kannst das, ich bin bei dir."

Bevor er die Liebe meines Lebens aus meinen Händen reißen kann, falle ich. Ich stürze mit ihr an meiner Seite in die Tiefe, die Wellen kommen uns immer näher. Das Wasser fühlt sich viel zu hart an, als meine Füße zu aller erst damit in Berührung kommen und ich nach und nach komplett von der eisigen Kälte eingehüllt bin.

Und plötzlich ist alles schwarz.

Unfreeze / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt