15-May

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Mit einem breiten Grinsen auf seinen Lippen, das die tiefen Grübchen in seinen Wangen zum Vorschein bringt, und einem gewissen Funkeln in seinen Augen betritt er unser Haus zum ersten Mal seit mehr als einem Jahr. Ohne seine Gedanken hören zu müssen, weiß ich, dass es ihn überrascht, dass alles so aussieht, wie er es in Erinnerung hat. Zumindest auf den ersten Blick.

Ich hinke ihm hinterher und verdränge so gut wie möglich die Schmerzen, die noch immer in meinem Brustkorb präsent sind, da ich Harry seine Freude mit meinem Leiden nicht verderben will. „Freust du dich, wieder zu Hause zu sein?", frage ich nach, obwohl ich die Antwort bereits kenne. Während ich die Tür hinter mir doppelt abschließe und überprüfe, dass niemand unerwünscht das Haus betreten kann, wirbelt er herum und dreht sich mit seinem ganzen Körper zu mir.

„Freuen wäre untertrieben. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich es hier vermisst habe.", erklärt er mir mit solch einem glücklichen und zufriedenen Gesichtsausdruck, dass ich es nicht übers Herz bringe, ihm wieder Vorwürfe zu machen. Denn am liebsten würde ich ihm wieder sagen, dass er auch schon früher aus der Klinik entlassen werden hätte können, wenn er früher ausgesagt hätte. Aber als ich ihm zusehe, wie er fasziniert über die Kleiderhaken und den darauf hängenden Jacken und anderen Kleidungsstücken streicht, bleibt mein Mund geschlossen und ich gönne ihm die Freude, wieder zu Hause zu sein.

Noch immer hält er seine sowie meine Tasche fest mit beiden Händen und bewegt sich langsam, schon beinahe schreitend, in das Wohnzimmer. Stumm folge ich ihm und höre zu, wie er leise Kommentare zu seiner Umgebung abgibt. „Du hast wieder den kleinen Bonsai-Baum in dem Regal stehen. Ich habe dir ja schon vor langer Zeit gesagt, dass er dem ganzen Raum einen friedlichen Aspekt verleiht.", murmelt Harry und geht zu dem Sofa, einem der wenigen Möbelstücke, die nicht mehr dieselben sind.

Verwirrt und mit zusammengezogenen Augenbrauen dreht er sich zu mir und stellt die Gepäcksstücke auf den Boden links und rechts von seinen Füßen. Ich setze mich schwer atmend und röchelnd auf das besagte Einrichtungsstück und sehe anschließend zu ihm auf, da er sich nur wenige Schritte vor mir befindet. Allein der kleine Tisch, auf dem zahlreiche Papiere und Magazine liegen, trennt uns voneinander, als er sich zu mir nach vorne beugt und raunt: „Was ist mit der Couch passiert?"

„Die alte ist beschädigt worden, weshalb ich eine neue gekauft habe.", teile ich ihm emotionslos mit und lehne mich nach hinten in die Dekokissen. Ich kann erkennen, wie sich seine Atmung aus mir unerklärlichen Gründen verschnellert und er sich gestresst wirkend durch die Haare fährt. Wie ein Tiger in einem Käfig beginnt Harry, direkt vor meinen Augen auf und ab zu gehen. Ohne mich anzuschauen fragt er nach: „Wieso hast du unsere Couch einfach so weggeworfen? Weißt du überhaupt, was auf diesem einen verdammten Möbelstück alles passiert ist?"

Da er von Wort zu Wort immer lauter wird und mich schlussendlich anschreit, stehe ich nun ebenfalls auf und stütze mich an meinen Krücken ab. Er bleibt direkt vor dem Fernseher stehen und dreht sich zu mir, wartend auf eine Reaktion von mir. Augenverdrehend antworte ich somit auch: „Ich denke, dass du mir gleich verraten wirst, welche ach so wertvollen Erinnerung mit einem beschissenen Sofa verbindest."

Ich sehe zu, wie er beide Hände mehrmals zu Fäusten ballt und wieder entspannt, während er tief ein und ausatmet. „Genau hier, wo jetzt dieses grässliche Möbelstück steht, ist die Couch gestanden, auf der wir meinen Eltern mitgeteilt haben, dass wir verlobt sind. Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, als sie sich schockiert, aber zugleich auch überglücklich nach hinten gelehnt haben in diese ganzen Zierkissen, die du schon immer geliebt hast.", erzählt Harry mir mit leiser und dennoch unruhiger Stimme. Er sieht wieder zu mir auf und fügt hinzu: „Ich kann sie noch direkt vor mir sehen auf der Couch, die du entsorgt hast."

„Es tut mir wirklich leid, dass dir dieses Möbelstück so viel bedeutet hat, aber ich konnte es nicht mehr behalten, da es angekotzt wurde.", kontere ich und hinke um den kleinen Tisch zwischen uns herum, um direkt vor Harry stehen zu können. Stumm beobachtet er jede meiner Bewegungen, bis ich schließlich über seine rechte Wange streiche.

Sofort entspannt er sich sichtbar und seine Schultern sacken nach unten. „Wieso wurde die Couch von wem angekotzt? Bitte sag mir, dass nicht du dich übergeben hast wegen irgendwelchen illegalen Substanzen.", forscht er flüsternd nach und schmiegt sich währenddessen mit geschlossenen Augen an meine Handfläche.

„Erstens musst du dir keine Sorgen machen, dass ich drogensüchtig bin, weil ich bin es schlicht und einfach nicht. Zweitens war es Liam.", murmele ich und sofort weicht Harry zurück bei der Erwähnung dieses einen Namens. Seine Augenlider sind weit geöffnet, bevor er das Gesicht zu einer wütenden Grimasse verzieht. Er krallt sich mit beiden Händen in den unteren Saum seines T-Shirts und zischt: „Wieso war dieser Bastard in unserem Haus?"

Ich verdrehe die Augen, genervt von seiner Eifersucht. Anscheinend hat sich während dem Jahr, in dem ich ihn nicht gesehen habe, nichts geändert und Harry wird wahrscheinlich noch immer ein gewisses, falsches Gefühl haben, dass ich ihn hintergehe mit Liam. „Er war betrunken und war unzurechnungsfähig, als ich ihn in einer Seitengasse gesehen habe. Hätte ich ihn deiner Meinung nach lieber im Dreck liegen lassen sollen, nur, damit deine heilige Couch nicht angekotzt worden wäre?", fahre ich ihn an und mache einen Schritt auf ihn zu, woraufhin er sofort zurückweicht. Ich lasse eine meiner Krücken auf den Boden fallen, begleitet von einem lauten Knall, und steche Harry mit der Spitze meines Zeigefingers in die Brust. Als er noch immer seinen Mund geschlossen hält, setze ich fort: „Du solltest lieber sofort aufhören, dich wie ein wütendes, von Eifersucht getriebenes Arschloch zu benehmen, sonst endet das alles hier ziemlich schlecht."

„Ich kann nichts dagegen tun, dass Liam, der als Spitze des Eisberges eines unserer Möbelstücke angekotzt hat, während des letzten Jahres mir andauernd das Gefühl gegeben hat, dass er dich flachlegt. Andauernd hat er mir gesagt, dass er dich schon wieder getroffen hat und es sehr viel Spaß gemacht hat.", kontert er schließlich doch und nähert sich mit seinem Gesicht langsam meinem. Unsere Nasenspitzen berühren sich, als er mir mitteilt: „Du hättest mich einfach hintergehen können mit ihm, während ich nichts dagegen anrichten hätte können. Du musst meine Eifersucht verstehen, ich kann dich nicht verlieren, das würde mich zerstören."

Unfreeze / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt