13-May

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Wie ein verlorener Welpe rennt Harry mir hinterher während wir uns in einem gedämpften Tempo über den Parkplatz bewegen. Ich kann hören, wie ich röchelnd atme, laut den Ärzten hat das Kettenrauchen innerhalb des letzten Jahres deutlich seine Spuren in meinen Lungen hinterlassen. Überfordert mit den Krücken humpele ich vorbei an zahlreichen Autos der verschiedensten Preisklassen und bin gleichzeitig froh, dass ich nicht mehr in einer Rostlaube durch die Gegend fahren muss. Direkt vor meinem neuen Fahrzeug bleibe ich stehen, Harry stellt sich verwirrt neben mich.

„Ist das unser Auto?", fragt er mit zusammengezogenen Augen und stellt seine Tasche voller privater Gegenstände auf den harten Untergrund. Er deutet mit einem Zeigefinger auf das schwarze Fahrzeug vor uns und als Antwort hole ich die Schlüssel hervor. Mit einem breiten Grinsen auf meinen Lippen drücke ich einen Knopf, woraufhin die Rücklichter kurz aufblinken und sich der Kofferraum schwungvoll öffnet. „Du hast uns wieder einen Range Rover gekauft! Ich liebe dich dafür so sehr, das kannst du dir gar nicht vorstellen.", ruft Harry entzückt und fährt verträumt mit den Fingerspitzen über die Lackierung.

Augenverdrehend lege ich meine Krücken so sorgfältig wie möglich auf die Ablagefläche, wobei mir Harry im Weg steht, anscheinend stark versucht, mich in die Arme zu nehmen. Doch dank meiner blauen Flecken und meiner angeknacksten Rippe muss ich ihn enttäuschen und fordere ihn auf: „Wenn du heute noch nach Hause willst, solltest du deine Tasche endlich verstauen." „Kann ich dich nicht umarmen?", will er wissen und schiebt seine Unterlippe über die obere, um seinen Mund zu einem Schmollen zu verziehen. Wartend auf eine Reaktion von mir streckt er beide Arme zur Seite und tritt einen Schritt näher an mich heran.

„Wenn du meine Rippe endgültig brechen willst, nur zu.", sage ich mit einem gefälschten Lächeln und humpele auf ihn zu. Blitzschnell weicht er mit weit aufgerissenen Augen zurück und wirft seine Tasche in den Kofferraum. Während er sich von mir abwendet, um zu der Beifahrerseite zu gelangen, murmelt er: „Ich glaube, ich passe."

Gerade, als ich im Begriff bin, wegen seiner Reaktion zu lachen, durchfährt mich ein stechender Schmerz in meiner Lunge und unwillkürlich beginne ich zu husten. Mit einer Hand stütze ich mich am Auto ab, die andere halte ich mir auf den Bauch. „May, soll ich jemanden rufen? Geht es dir gut?", dringt Harrys Stimme zu mir und ich spüre, wie eine große Hand über die blauen Flecken auf meinem Rücken streicheln. Tränen treten in meine Augen und jedes Mal, wenn ich röchelnd Luft hole, wird mein Körper wieder von einem Hustenanfall durchgeschüttelt.

„Fass mich nicht an.", zische ich keuchend und richte mich trotz den Höllenqualen in meinem Brustkorb wieder auf. Mit einem verletzten Ausdruck auf seinem Gesicht weicht Harry zurück und entfernt seine Hand von meinem Rücken. „Es tut mir leid, ich hatte Angst um dich.", gibt er zu und reibt sich mit einer Hand über den Nacken. Ich klopfe ihm aufmunternd auf die Schulter und schenke ihm ein halbherziges Lächeln, während ich ihm versichere: „Du hast nichts Falsches gemacht."

Ich setze meinen Weg zu der Tür, hinter der sich der Fahrersitz befindet, da mittlerweile meine Lungen aufgehört haben, gegen mich zu rebellieren und mir Schmerzen zu verursachen. Überfürsorglich befindet Harry sich nur wenige Zentimeter hinter mir und flüstert: „Ich mache mir wirklich Sorgen um dich wegen deines Zustandes." „Das musst du nicht, Harry. Es geht mir gut.", kontere ich und steige in das Auto ein.

Auch er macht sich auf den Weg zu der anderen Seite des Fahrzeuges, um ebenfalls in diesem Platz zu nehmen, indem er am Kofferraum vorbeijoggt und diesen schnell schließt. Seufzend reißt er die Tür auf und bevor er sich förmlich auf den Sitz werfen kann, bleibt sein Blick auf dem Baseballschläger haften, der sich auf der Sitzfläche befindet. „Wieso hast du einen Baseballschläger in deinem Auto?", fragt er neugierig nach und nimmt den hölzernen Gegenstand in beide Hände, bevor er sich hinsetzt. Er dreht und wendet meine Waffe, während ich das Fahrzeug starte und ihm knapp antworte: „Verteidigung."

„Wozu brauchst du einen Baseballschläger als Verteidigung?", forscht Harry weiterhin nach und lässt seinen Blick zu der Klinik gleiten, an der wir soeben vorbeifahren. Ich trete auf das Gaspedal, um das riesige Gebäude noch schneller hinter uns zu lassen und fahre ihn aggressiver als geplant an: „Was haben wir über nervige Fragen gesagt?"

Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass er den Baseballschläger auf seine Oberschenkel legt und den Kopf nach unten hängen lässt. „Entschuldigung.", haucht er und für einen kurzen Moment tut es mir leid, dass ich so forsch zu ihm war. Doch ich will nicht, dass er sich mehr Sorgen um mich macht als um sich. Er ist derjenige, dessen mentale Genesung im Vordergrund steht, meine Probleme sind unwichtig.

Als wir an einer roten Ampel halten, entferne ich eine Hand vom Lenkrad um sie auf seinen Oberschenkel zu legen, wodurch sein Gesicht sich erstaunt zu mir wendet. Er lächelt mich an, sodass die Grübchen in seinen Wangen zum Vorschein kommen, als ich ihm erkläre: „Du musst dich deswegen nicht entschuldigen. Das letzte Jahr war einfach sehr schwer für mich und ich möchte dich nicht damit belasten."

„Aber, wenn du verletzt wirst, ist ein meine Pflicht als Verlobter, mich um dich zu sorgen.", argumentiert Harry und platziert seine Hand auf meiner. Seine Stirn runzelt sich, als er mich ansieht und die blauen Flecken auf meiner entblößten Haut erblickt. Kopfschüttelnd schließt er die Augen und dreht sich weg von mir. „Ich habe versagt, dich zu beschützen.", murmelt er so leise, dass ich ihn beinahe nicht höre.

Auch ich wende meinen Kopf wieder Richtung Frontscheibe und erkenne, dass die Ampel schon längst wieder grün ist. Ich drücke schnell meine Fußsohle auf das Gaspedal, bevor der Fahrer hinter mir wie ein Irrer hupen kann. „Du hattest andere Sachen, mit denen du dich beschäftigen musstest.", will ich ihn beruhigen und deute blindlings auf den Baseballschläger auf seinem Schoß. Anschließend setze ich scherzend fort: „Außerdem habe ich hier die ultimative Verteidigung."

Harry schüttelt seinen Kopf und streicht gedankenverloren über das Holz auf seinen Oberschenkeln. Im Auto wird es wieder still und nur das Geräusch des Motors trennt uns von kompletter Stille. Doch schließlich höre ich ein Schluchzen, gefolgt von seiner Stimme, in der Trauer mitschwingt: „Es tut mir leid, dass ich nicht auf dich aufpassen konnte."

Unfreeze / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt