12-Harry

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Nervös wippe ich mit einem Bein auf und ab, wodurch ich von Kendall genervte Blicke ernte. Ich stecke meine Hände in die Taschen meiner Lederjacke und lehne mich seufzend nach hinten, sinke somit tiefer in den weichen Sessel. „Was ist, wenn sie doch nicht kommt?", frage ich meine nun ehemalige Betreuerin und schaue sie ängstlich an.

„Sie ist deine Verlobte, sie liebt dich und wird dich sicher nicht vergessen.", antwortet sie augenverdrehend, während sie auf die teuer aussehende Uhr auf ihrem linken Handgelenk sieht. Um ebenfalls zu erfahren, wie spät es ist, lehne ich mich ein wenig zu ihr und verrenke meinen Hals, damit ich einen Blick auf das Ziffernblatt werfen kann.

14:47

Um drei Uhr sollte May mich abholen, doch da sie normalerweise immer zu früh kommt, bin ich heute auch schon 13 Minuten vor der ausgemachten Uhrzeit in der Empfangshalle und warte auf sie. Seufzend schaue ich wieder zu der breiten Glastür, durch die hin und wieder Menschen das Gebäude betreten oder verlassen. Ich will nur mehr ihre kurzen, dunkelbraunen Haare sehen und wie sie mit schnellen Schritten auf mich zukommt. Wie sie mir sagt, dass ich mit ihr nach Hause gehen darf und sie mich so sehr vermisst hat wie ich sie. Aber egal, wie sehr ich sie mir herbeiwünsche, tritt sie nicht in mein Sichtfeld.

„Bist du dir sicher, dass sie meine Entlassung für heute angesetzt hat?", spreche ich meine paranoiden Zweifel aus und stehe gestresst auf. Ich gehe die gesamte Reihe von Sesseln auf und ab, bevor Kendall genervt ihre Hände erhebt und sie anschließend wieder auf ihre Oberschenkel fallen lässt. „Hundertprozentig. Jetzt beruhige dich wieder, ich halte deine Nervosität nicht mehr aus.", fährt sie mich an und greift nach meinem Handgelenk, um mich zum Stehen zu bringen.

Blitzschnell ziehe ich meinen Arm von ihr weg, damit kein falsches Bild entsteht, falls May uns sehen würde. Ich drehe mich zu der Eingangstür, hoffend auf sie, doch werde zum wiederholten Mal enttäuscht. „Aber sie kommt immer zu früh. Das ist eine ihrer Angewohnheiten, die sie schon hatte, bevor ich sie kennengelernt habe.", kontere ihr, während ich mir durch die Haare raufe. Ich lasse mich wieder auf den Sessel neben Kendall fallen und stoße ein ungeduldiges Seufzen aus. Sie schaut mich mit einem ernsten Ausdruck, der mir mitteilt, dass ich ihr auf die Nerven gehe, und dreht sich anschließend von mir weg. Innerlich frisst mich die Angst, dass May nicht kommen würde, auf und ich vergrabe mein Gesicht in beiden Händen.

Meine Gedanken, in denen ich mir die schlimmsten Szenarien, wieso sie mich nicht abholt, ausmale werden unterbrochen, als ich plötzlich Kendalls Stimme neben mir höre, als sie mir mitteilt: „May ist hier."

Abrupt entferne ich meine Hände aus dem Gesicht und springe aus dem Sessel auf, mein Blick schnellt zu der Eingangstür, wo ich auch schon meine Verlobte entdecke. Doch nicht in dem Zustand, in dem ich sie mir gewünscht habe. Sie stützt sich an zwei Krücken und ihre Haare sowie die Kapuze ihrer Weste verdecken ihr Gesicht fast zur Gänze, dennoch kann ich dunkele Flecken entdecken. Direkt neben ihr entdecke ich Liam, der wie wild auf sie einredet, die Sorge um sie steht ihm ins Gesicht geschrieben. Durch diesen Anblick macht sich Eifersucht in mir breit, da er May viel zu Nahe für meinen Geschmack ist.

Daher durchquere mit schnellen Schritten die Eingangshalle und rufe schon von weitem ihren Namen, wodurch sie erschrocken aufsieht und mir die Luft in den Lungen stecken bleibt. Mein Herz scheint für einen Schlag auszusetzen, als ich die blauen Flecken auf ihrem Gesicht und entlang ihres Halses erblicke. Unwillkürlich treten mir Tränen in die Augen, denn ich habe mir immer gewünscht, sie nie so zugerichtet sehen zu müssen.

„Hör auf, mich anzustarren.", fährt May mich an und streicht mit einer Hand ihre Haare aus dem Gesicht, wobei die Krücke, mit der sie sich auf der Seite noch vor kurzem abgestützt hat, droht, auf den Boden zu fallen. Blitzschnell greife ich nach dem Gegenstand und stelle mich anschließend direkt vor sie, sodass sie den Kopf in den Nacken legen muss, um mir in die Augen sehen zu können. Sie reißt mir die Krücke aus der Hand und bedankt sich mit einem stummen Nicken.

Nervös lächele ich sie an und frage sie: „Wann können wir nach Hause fahren?" „Das wirklich keine gute Idee.", wirft Liam ein und wie abgesprochen zischen May und ich gleichzeitig: „Halte dich da raus!"

Mit einem breiten Grinsen schaut sie mich an und streckt sich nach oben, um mir einen leichten Kuss auf die Lippen zu hauchen. „Noch immer ein Herz und eine Seele.", murmele ich und obwohl ich sie in die Arme nehmen will, mache ich dies nicht, aus Angst davor, sie zu verletzen. May verdreht die Augen und neckt mich: „Noch immer so klischeehaft, Styles."

„Willst du mir auch sagen, was mit dir passiert ist?", kommt es schneller aus meinem Mund, als ich denken kann und am Liebsten würde ich mir deshalb selber auf die Stirn schlagen. Ihr Gesichtsausdruck verändert sich von aufgeheitert zu düster und schon fast bedrohlich. Sie schlägt mir mit einer Krücke sanft auf die äußere Seite meines linken Oberschenkels und raunt: „Ich werde es dir erzählen, wenn ich es will. Aber ich habe keine Lust auf Drama, deshalb frag nicht mehr nach."

Mir eine Bemerkung diesbezüglich verkneifend stecke ich beide Hände in meine Hosentaschen und wechsele schnell das Thema: „Wann fahren wir los?"

„Sobald ich die ganzen Papiere unterschrieben habe.", teilt mir May mit, während ihr Blick hinter mich wandert und sich gleichzeitig ihre Augen zu Schlitzen verengen. Wenig später spüre ich eine weibliche Präsenz neben mir, bei der es sich nur um Kendall handeln kann. Diese will lächelnd von meiner Verlobten wissen: „Wohin soll ich Harrys Sachen bringen?"

May verdreht seufzend die Augen und antwortet anschließend: „Kleidung braucht er nicht, die privaten Sachen wird mir sicherlich liebend gerne Liam holen. Nicht wahr, Liam?" Mit einem falschen Lächeln auf ihren Lippen dreht sie ihren Kopf kurz zu dem Mann neben sich, woraufhin dieser nach kurzem Zögern sich eilend von uns entfernt. Hierauf dreht sie sich wieder zu mir und erinnert mich: „Du kommst endlich wieder nach Hause."

„Dieses Mal werde ich nicht mehr zurück in die Klinik, das verspreche ich dir.", teile ich ihr hoffnungsvoll mit und gebe ihr wieder einen flüchtigen Kuss. May nickt und raunt: „Dieses Mal werde ich mich um dich kümmern, das verspreche ich dir."

Unfreeze / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt