19-May

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Wäre mein Leben normal, wäre ich neben Harry aufgewacht und hätte ihn so lange genervt, bis er mir Frühstück macht. Er hätte mir Pancakes zubereitet und frisches Obst aufgeschnitten, mir meinen Kaffee direkt vor die Nase gehalten, damit ich durch den Geruch der frisch gemahlenen Bohnen aus meinem verschlafenen Zustand gerissen werde. Da ich durch den süßen Geschmack seiner Lippen die Zeit vergessen hätte, müsste ich mich in Windeseile umziehen und anschließend durch die Haustür stürmen, um noch rechtzeitig zu meiner Arbeit zu gelangen. Hinter mir hätte ich noch Harrys Stimme gehört, wie er mir einen schönen und halbwegs ertragbaren Tag wünscht.

Nach den Stunden, die ich zwischen Blüten, die allesamt in den verschiedensten Farben erblühen, und Blättern verbracht habe, würde ich wieder nach Hause zurückkehren. Empfangen von dem Geruch, der nach meiner persönlichen Heimat namens Harry riecht, würde ich das Haus betreten. Mein Verlobter würde durch einen Türrahmen in den Eingang geschlendert kommen, mit einem schiefen Grinsen auf seinen Lippen. Diese würden sich auf meine legen, als die wohl beste Begrüßung, die ich mich jemals vorstellen könnte. Anschließend würde er mir mein Mittagessen auftischen, da er der Koch im Hause ist, und mir, während ich die Nahrung förmlich aufsauge, über seinen Tag erzählen. Der nörgelnde Teil von ihm würde zum Vorschein kommen und er würde sich über sämtliche Kleinigkeiten beschweren. Anstatt meinem Instinkt nachzugehen, würde ich ihm aufmerksam zuhören und nicht die Augen verdrehen. Bis er schließlich fertig ist und wir den Nachmittag zusammen verbringen. Ich würde ihm unter anderem zusehen, wie er für sein Studium lernt, oder wir würden alte Musik hören oder eine Serie gemeinsam ansehen.

Doch die Realität sieht nicht so aus.

Ich bin in einem kalten Bett alleine aufgewacht. Kein starker, von Muskeln definierter Körper ist neben mir gewesen, an den ich mich kuscheln hätte können. Meine Morgenroutine habe ich so leise wie möglich durchgeführt, damit ich Harry nicht wecken würde. Mit dem Gefühl von Mitleid habe ich mich für einige Momente vor ihn hingekniet und ihn angesehen, wie er verkrampft wirkend auf der von ihm gehassten Couch schläft. Ich habe ihn zugedeckt, da er sich die Decke anscheinend vom Leib gestrampelt hat, und habe ihm einen Kuss auf die Stirn gehaucht.

Zu meinem Arbeitstag gibt es nicht viel zu sagen. Blumen und Blätter, zwischendurch illegal angebaute Pflanzen und ein breit grinsender Louis. Nervige Kunden, die viel zu viele Extrawünsche hatten, und große Hektik, als bräuchte jeder plötzlich irgendwelche Zierpflanzen. Anschließend wieder dunkle Seitengassen und mein schwingender Baseballschläger. Das beruhigende Gefühl von Geldscheinen zwischen meinen Fingern, kombiniert mit den Entzugserscheinungen mancher Junkies, die mich auf Knien anbetteln, damit sie ihre Droge bekommen.

Somit betrete ich nach einem sowohl physisch, als auch psychisch anstrengendem Tag erleichtert mein Haus. Ich entferne meine Stiefeletten von meinen Füßen und reiße mir meine Jacke förmlich vom Leib. Anschließend fische ich mein Handy aus der Handtasche, welche ich danach auf den Boden fallen lasse, und bewege mich ins Wohnzimmer. Dort angekommen bleibe ich direkt hinter der Couch stehen und da ich Harry bis jetzt noch nicht gesehen habe, rufe ich laut: „Ich bin wieder zu Hause!"

Keine Anzeichen von Harry.

Verwirrt runzele ich meine Stirn und schreie noch einmal, dieses Mal etwas lauter als zuvor: „Ich bin zu Hause!" Als weiterhin Stille herrscht und er nicht in mein Sichtfeld tritt, füge ich hinzu: „Harry, bitte komm zu mir!"

Noch immer keine Anzeichen von meinem Verlobten.

Ein ungutes Gefühl taucht in meiner Magengegend auf und breitet sich langsam in meinen ganzen Körper aus. Nervös fahre ich mir durch die Haare und drehe mich einmal um die eigene Achse, auf der Suche nach einem Lockenkopf. Schreitend verlasse ich das Wohnzimmer und begebe mich im ganzen Erdgeschoss auf die Suche nach immer. Wieder und wieder rufe ich seinen Namen und als ich schließlich bei der Stiege, die zu dem zweiten Stock führt, angekommen bin, treten mir bereits Tränen in die Augen.

Ich hätte ihn morgens aufwecken sollen. Ich hätte ihm die Chance geben sollen, mit mir zu frühstücken und über seine Probleme zu reden, wenn er dies gewollt hätte. Wir hätten miteinander kommunizieren sollen, damit ja keine Verständnisprobleme entstehen.

Aber ich Idiotin hätte die Situation nicht ertragen können, wenn er mich vorwurfsvoll angesehen hätte, weil ich die Identität meines Bosses verschweige.

Langsam steige ich die Stufen hinauf, mittlerweile fließen die Tränen unkontrollierbar aus meinen Augen über meine Wangen, bevor sie auf den Stoff meines Pullovers fallen und dunkle Flecken hinterlassen. Ich wische mir mit beiden Händen über das Gesicht, um meine verschwommene Sicht zu klären. Gerade, als ich meinen Mund wieder öffne, um nach Harry zu schreien, entdecke ich ihn. Zusammengekauert vor der Tür zu unserem Schlafzimmer auf dem Boden liegend.

Ich laufe zu ihm und knie mich mit so viel Schwung vor ihn hin, dass meine Kniescheiben mit einem dumpfen und sehr schmerzhaften Knall in Berührung mit dem Untergrund kommen. „Harry, geht es dir gut?", frage ich ihn und streiche über seine nackte Schulter. Nur wenige Augenblicke später gleitet mein Blick von seinem Gesicht und seinen zusammengekniffenen Augen hinunter zu seinen Unterarmen.

Zu seinen zerkratzten Unterarmen.

„Harry, bitte rede mit mir.", flehe ich ihn an und fahre ihm mit den Fingern meiner rechten Hand durch die Haare, damit diese mir nicht die Sicht auf sein Gesicht verdecken können. Endlich öffnet er seine Augenlider und sieht mich geröteten Augen an. Er schnieft einmal leise, bevor er kaum hörbar haucht: „Ich bin eine Last."

Er setzt sich auf und lehnt sich gegen die geschlossene Tür zu unserem Schlafzimmer. Noch immer starrt er mich an, während er langsam beginnt, seinen Kopf gegen das Holz hinter sich zu schlagen. „Ich belaste dich.", schluchzt er, dieses Mal etwas lauter.

„Nein, das tust du nicht.", will ich ihn beruhigen und greife mit beiden Händen nach seinem Kopf, um diesen davon abzuhalten, weiterhin gegen die Tür geschlagen zu werden. Ich halte ihn fest und lehne mich zu ihm, um meine Lippen auf seine zu legen. Nachdem ich mir wieder von ihm löse und in seine weit aufgerissenen Augen blicke, wiederhole ich: „Du belastest mich nicht. Du musst diesen Gedanken sofort verbannen."

Harry zieht mich abrupt auf seinen Schoß und schlingt seine Arme um meinen Oberkörper. Seine Umarmung gleicht der einer Würgeschlange, doch ich lasse ihn machen und verkneife eine Bemerkung, dass er auf meine blauen Flecken drückt und mir somit Schmerzen zufügt. Tränen drängen sich durch die Höllenqualen, die ich soeben erlebe, wieder in meine Augen und ich habe das Gefühl, dass ich nicht mehr atmen kann.

Dennoch ist Harry in diesem Moment wichtiger. Er ist wahrscheinlich in der Zeit, in der ich nicht bei ihm war, beinahe durchgedreht mit dem Gedanken in seinem Kopf, dass er eine unnötige Last für mich ist. „Wie fändest du es, wenn wir deine Lieblingspizza bestellen und miteinander reden?", bringe ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und platziere einen federleichten Kuss auf seiner Stirn.

Ein halbherziges Lächeln schleicht sich auf seine Lippen und er nickt zaghaft. „Gut, dann müssen wir nur mehr aufstehen.", fordere ich ihn auf und küsse anschließend seine Nasenspitze, woraufhin er kurz auflacht.

Unfreeze / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt