31-May

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Schlagartig scheint mir das Blut in meinen Adern zu gefrieren, oder mein Herz setzt tatsächlich einen Schlag lang aus. Harrys Finger, die sich noch immer direkt auf meiner Haut an meiner Hüfte befinden, wirken plötzlich eiskalt, wodurch sich auf meinen Armen Gänsehaut bildet. Sein Blick liegt noch immer auf mir, das Starren, welches keine Emotionen preisgibt, macht mir nur noch nervöser.

Und sofort kann ich mich an die letzten Male erinnern, während denen in Harry ein Schalter umgelegt wurde. Das Meer, bestehend aus Scherben, und wie er sich lauthals lachend in dieses gelegt hat, mit mir schlafen wollte, damit er etwas fühlt. Seine Hand um meinen Hals, meine Luftzufuhr dadurch so eingeschränkt, dass ich nur mehr röcheln konnte. Dann sein fester Griff um das Messer und dessen Klinge, die direkt an meiner Haut liegt. Ich kann Harrys Stimme hören, wie er ruft, dass ich nicht bei der Klinik anrufen soll, weil sonst etwas Schlimmes passieren würde. Noch immer sehe ich ihn vor mir, wie er von mir weggezogen wird und schreit, dass ich ihm so etwas nicht antuen kann.

„Ist alles ok?", reißt mich die tiefe, rau klingende Stimme aus meinen Gedanken, da sie direkt neben meinem rechten Ohr ertönt. Erschrocken zucke ich zusammen und kneife beide Augen zu. In meinem Versuch, aus Harrys Griff zu entfliehen, renne ich gegen das Waschbecken und falle durch den Aufprall wieder nach hinten, genau gegen seine Brust.

„Lass mich los.", zische ich aufgebracht, meine Tonlage ist um eine Oktave höher als normal. Ich reiße meine Augen auf, nur um in die Reflexion des Spiegels zu blicken, in der ich Harry deutlich erkennen kann. Überraschung sowie Verwirrung stehen förmlich auf seinem Gesicht geschrieben, während er beide Hände abwehrend neben seinen Kopf hebt. Blitzschnell drehe ich mich um und lehne mich gegen das Waschbecken. Ich greife wahllos nach einer Medikamenten-Packung und halte sie ihm direkt unter die Nase, bevor ich ihm befehle: „Du wirst die verschriebene Dosis von weiß Gott was nehmen."

„Sonst was?", fordert Harry mich heraus und greift nach der kleinen Schachtel in meiner Hand, um diese von seinem Gesicht wegzuschieben. Er sieht mich angriffslustig an, steigert somit meine Nervosität, die sich in Form von Aggression sichtbar macht. Mit all meinem Mut mache ich einen Schritt auf ihn zu und deute mit einem Zeigefinger auf ihn.

Sobald ich ihm wieder näherkomme, weicht er nach hinten aus, für einen kurzen Moment bilde ich mich sogar ein, Unsicherheit in seinen Augen erkennen zu können. Dies nutze ich sofort aus, indem ich ihm drohe: „Sonst gebe ich auf."

Verwirrt runzelt Harry die Stirn und stoppt seine Versuche, den Abstand zwischen ihm und mir aufrecht zu erhalten. Er deutet mir stumm, mit Hilfe von einer hektischen Geste, fortzufahren und meine Aussage zu erklären. „Du kannst nicht einfach beschließen, die Medikation abzusetzen, Harry. Das schadet nicht nur deiner mentalen Gesundheit, sondern auch unserer Beziehung. Sei nicht egoistisch und weigere dich nicht, nur, weil du keine Lust mehr darauf hast, jeden Abend Pillen zu schlucken." „Ich brauche diesen Tabletten nicht, lass mich dir das beweisen.", kontert er sofort, er fleht mich förmlich an, indem er seine Hände faltet, als würde er beten.

„Nein, Harry, ich gebe dir in dieser Hinsicht keine Chance.", lasse ich seine Hoffnungen und Bitten zerbersten. Harry lässt seine Arme schlaff herabhängen und sieht mich traurig an, mit einer Spur von Enttäuschung ebenfalls in seinen Augen. Blind greife wieder nach einer Medikamenten-Verpackung und werfe diese nach ihm.

Unwillkürlich ist meine Stimme laut, als ich ihn anfahre: „Ich werde nicht mit dir zusammenbleiben, wenn du dich gegen die Medikamente wehrst. Also nimm die beschissenen Tabletten!"

„Aber ich schaffe es auch ohne Medikamente! Dank dir habe ich seit Tagen keinen Albtraum mehr, dank dir kann ich abschließen. Ich brauche keine verdammten Wirkstoffe, die mir das Hirn vernebeln und die lediglich mich beschissen fühlen lassen.", schreit Harry mich nun ebenfalls an, die Anspannung in dem Raum ist kaum noch auszuhalten. Seine Brust hebt und senkt sich heftig und er hat seine Hände zu Fäusten geballt. „Du merkst gar nicht, wie sehr mir die Tabletten schaden. Ich vergesse Dinge, die ich nicht vergessen sollte. Wenn ich alleine bin, kann ich die Stille nicht ertragen, weil mich Paranoia überkommt."

Ich reibe mir gestresst die über die Schläfen und schließe für einige Sekunden meine Augen. Noch bevor ich ein weiteres Argument für die Einnahme der Tabletten in der Dosis, wie die Ärzte es verschrieben haben, liefern kann, packen zwei Hände meine Unterarme so fest, dass ich schmerzerfüllt die Luft zischend einziehe. „Harry, lass mich los!", zische ich, Tränen treten mir bereits in die wieder geöffneten Augen, da sich seine Finger in meine Haut drücken.

„Verstehe mich doch, ich brauche nur dich! Du bist das einzige Heilmittel, das mir wirklich hilft.", redet er voller Emotionen auf mich ein. Doch ich höre seine Worte nur, in meinem Gehirn ergeben sie keinen Sinn. Ich kann mich einzig und allein auf die Schmerzen an meinem Unterarm konzentrieren, wodurch ich ihn schließlich kreischend unterbreche: „Du tust mir weh, lass mich los!"

Harry braucht einige, schmerzvolle Momente, bis er begreift, was er machen soll. Schließlich weicht er, als wäre er von mir geschlagen worden, einige Schritte zurück, wodurch sich sein Griff um meine Unterarme löst. Er blickt mit weit aufgerissenen Augen auf seine Handflächen und haucht: „Ich habe dir wehgetan."

„Nimm jetzt bitte die Medikamente und wir können diesen Zwischenfall vergessen.", bitte ich mit einer Stimme, die viel ruhiger als erwartet klingt. Ich verschränke meine Arme und will einen Schritt auf Harry zu machen, doch dieser fährt mich laut an: „Bleib weg von mir! Ich habe dir wehgetan."

Er rauft sich durch die Haare, zieht an deren Spitzen und weicht meinem Blick auf. Von mir abgewendet wiederholt er wie ein Mantra: „Ich habe dich verletzt." „Alles ist gut, Harry. Es war unwillkürlich, du wolltest das nicht tun.", übertöne ich ihn, woraufhin Harry zu mir herumwirbelt und mich schockiert ansieht.

„Das ist ja das Problem. Ich wollte es nicht, konnte mich aber nicht davon abhalten. Ich habe keine Kontrolle über mich.", ruft er aufgebracht und wagt es endlich, sich mir langsam zu nähern. Wie ein eingeschüchtertes Kind schleicht er sich zu mir, während Tränen sich ihren Weg über seine Wangen bahnen. Er hebt seine Hände, als würde er sie auf meinen Wangen ablegen wollen, und wiederholt: „Ich kann mich nicht kontrollieren."

Schließlich schließe ich den Abstand zwischen uns und streiche seine Locken aus seinem Gesicht. „Doch, das kannst du, da bin ich mir sicher. Bitte nimm die Medikamente, sie helfen dir.", ermutige ich ihn, während ich mich auf die Zehenspitzen stelle, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu hauchen. Harry schließt resigniert die Augen und ich füge hinzu: „Ich helfe dir."

Vorsichtig schlingt er seine Arme um meinen Oberkörper und zieht mich eine so sanfte Umarmung, dass es so scheint, als hätte er Angst, dass ich durch zu viel Druck zerbrechen könnte. Er vergräbt sein Gesicht an meiner Halsbeuge und murmelt etwas für mich unverständliches. Gleichzeitig streichele ich ihm beruhigend über den Rücken und versichere ihm noch einmal: „Ich werde dir helfen, alles wird wieder gut."

Unfreeze / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt