10-May

298 36 6
                                    

Schmerzen sind das Einzige, das ich spüre, als ich zu mir komme. Meine Augenlider fühlen sich viel zu schwer zu öffnen an, also lasse ich sie geschlossen, in der Hoffnung, dass ich in wenigen Augenblicken wieder in die schmerzfreie Leere zurückkehren. Unter meiner rechten Wange spüre ich den kalten Untergrund, dessen Frost sich seinen Weg bereits durch meine Kleidung bereits bis in meine Knochen gebahnt hat. Als rein reflexartig ein Zittern durch meinen ganzen Körper geht, kann ich jeden einzelnen Tritt spüren, der mir letzte Nacht zugefügt wurde. Jeder noch so kleine blaue Fleck bleibt nicht unerkannt und mir entflieht ein schmerzerfülltes Stöhnen.

Nach einigen, langen Momenten, in denen ich beinahe wieder in die Bewusstlosigkeit abgedriftet wäre, höre ich entfernt einen Menschen, der anscheinend meinen Namen ruft. Das Geräusch dringt mir viel zu laut in die Ohren und bewirkt, dass sich das Dröhnen in meinem Kopf nur noch verstärkt. Innständig hoffe ich, dass die Person so schnell wie möglich verstummt und mich in Ruhe lässt. Doch plötzlich ruft wieder jemand nach mir, direkt neben, oder über meinem Kopf und ich spüre eine Hand auf meiner linken Schulter. Ich werde sanft gerüttelt und es ertönt wieder eine Stimme: „May, bitte gib mir zu erkennen, dass du bei Bewusstsein bist. Oh Gott, bitte sei am Leben."

Mir wird an die Halsschlagader gefasst und ich ziehe laut die Luft ein, als ich zwei eiskalte Finger an meiner Haut spüre. Ich gebe etwas Unverständliches von mir, damit ich der Person ein Lebenszeichen gebe, abgesehen von meinem langsamen und schwachen Puls. „Gott sei Dank, du lebst noch. Soll ich die Rettung rufen? Du schaust ziemlich schlimm zugerichtet aus.", atmet der Mensch erleichtert aus und streicht mir über einen Arm, so sanft wie möglich, um keinen schmerzhaften Druck auf die blauen Flecken zu verteilen.

„Geh weg.", nuschele ich grimmig und versuche trotz des Widerstandes meine Augen zu öffnen. Das Tageslicht blendet mich und ich will eine Hand als Sonnenschutz benutzen, doch sofort durchfährt ein stechender Schmerz meinen ganzen Arm, als ich diesen bewegen will. Schließlich schirmt mich der Körper der Person, die mich gefunden hat, von den hellen Strahlen ab und ich schaffe es, die Augenlider weit genug aufzumachen, sodass ich endlich den Menschen vor mir identifizieren kann. Dankbar, dass mich keiner meiner Nachbarn in diesem Zustand sieht, erzwinge ich mir ein leichtes Lächeln und hauche seinen Namen: „Louis."

Dieser tippt wie wild auf seinem Handy herum und sieht erst zu mir, als ich gesprochen habe. Als würde er sich entspannen, hat er sich im Schneidersitz vor mich hingesetzt und raunt: „Ich werde jetzt die Rettung rufen, weil ich absolut keine Ahnung habe, wie ich mit dir umgehen soll."

„Bitte nicht.", bringe ich hervor, noch bevor ein heftiger Hustenanfall meinen ganzen Körper erbeben lässt. Die dadurch entstehenden Höllenqualen reißen mir sämtliche Luft aus meinen Lungen und Tränen treten mir in die Augen. Louis starrt mich überfordert an, sein Zeigefinger schwebt über dem Display seines Handys. „Ich habe keine Lust darauf, dass du direkt vor meinen Augen stirbst, also werde ich jetzt 911 anrufen. Währenddessen versuche einfach, dass du bei Bewusstsein bleibst und dein Herz nicht stehenbleibt.", teilt er mir mit und bevor ich noch einmal protestieren kann, hält er sich schon sein Telefon ans Ohr.

Mittlerweile habe ich es geschafft, das Husten zu unterdrücken und somit schwingt mit meiner Atmung nur mehr ein leises Röcheln mit. Erschöpft von den Schmerzen und dem viel zu hellen Tageslicht schließe ich wieder die Augen und höre zu, wie Louis mit jemandem über das Handy redet, dem Gesprächspartner meinen Zustand schildert. Anscheinend hat er bemerkt, dass ich kurz vor dem Abdriften in die entspannende Leere bin und schnippt direkt neben meinem Ohr herum, um mich wach zu halten.

Ich kneife die Augen noch mehr zusammen und murmele: „Ich lebe noch." „Gut, weil sonst würden die Sanitäter in ein paar Minuten umsonst kommen.", antwortet Louis und ohne ihn sehen zu müssen weiß ich, dass er mich angrinst. Alleine an dem ironischen Unterton, der in seiner Stimme mitschwingt, erkenne ich, dass er trotz dem Ernst der Lage noch immer seine wahre Persönlichkeit beibehält. Dadurch hebt sich auch meine Stimmung und unwillkürlich heben sich meine Mundwinkel leicht an.

„Das ist der Lebenswillen, den ich von dir sehen will!", ruft Louis aufmunternd und bewirkt, dass ich ein schmerzhaftes Lachen hervorbringe. Ich spüre, wie mir ein wärmendes Kleidungsstück über meinen mit Gänsehaut übersäten Körper gelegt wird und eine Hand mir sanft die Haare aus dem Gesicht streicht. Er räuspert sich und fügt hinzu: „Wenn du jetzt sterben würdest, hätte ich keine einzige coole Mitarbeiterin mehr. Weißt du, wie schlimm das für mich wäre?"

Ich öffne wieder die Augen, als aus der Ferne schon das Geräusch Sirenen in meine Ohren dringt. „Rettung?", frage ich nach, mein Gedächtnis, was die letzten Minuten angeht, ist ziemlich lückenhaft und ich bilde mir fest ein, dass Louis nicht den Notruf gewählt hat.

„Wenn dein Gehirn jetzt auf die Größe einer Erbse geschrumpft ist und du vergessen hast, wie schlecht du zugerichtet bist, dann muss ich doch eine andere coole Mitarbeiterin suchen. Wobei niemand so abgefahren sein könnte, wie du.", redet er auf mich ein und bewegt mich dazu, die Augen wieder zu öffnen, um sein breites Grinsen zu sehen. Er streicht mir federleicht über die Wange und fügt hinzu: „Jetzt kommen die Sanitäter, weil ich sie angerufen habe."

Beinahe unmerklich nicke ich und hauche leise: „Danke." „Für was? Dafür, dass ich mich gewundert habe, wieso meine coolste Mitarbeiterin nicht rechtzeitig auftaucht und ich mir deshalb Sorgen gemacht habe?", fragt er mich rhetorisch und setzt nach einigen Momenten fort: „Gern geschehen."

„Möchtegern Komiker.", nenne ich ihn augenverdrehend und höre, dass die Sirenen mittlerweile ganz in der Nähe sind. Ich sehe, wie hinter Louis' Rücken mehrere Männer aus einem Rettungswagen steigen und zu mir eilen. Ihre Westen, die in einem Neonorange erstrahlen, irritieren meine Augen und bescheren mir augenblicklich Kopfschmerzen, sodass ich wieder meine Augenlieder schließe.

Dieses Mal ist es nicht Louis' Stimme, die viel zu laut ertönt, als einer der Sanitäter diesen fragt: „Haben Sie angerufen?" „Ja, die Verletzte liegt, falls du es noch nicht gesehen hast, direkt vor uns und benötigt deine Hilfe.", fährt mein Arbeitgeber einen der Neuankömmlinge an und fügt noch schnell hinzu: „Jetzt sofort, wenn es sich einrichten lässt."

Unfreeze / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt