34-May

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Ich dränge mich schnell an Harry vorbei, auf dem Weg zur Küche, durch dessen breites Fenster ich an den Vorgarten sehen kann. Hinter mir ertönen Fragen über Fragen, allesamt ausgesprochen mit einem verängstigten, schon fast panischen Ton, doch ich ignoriere sie, da ich mich auf die drei Gestalten außerhalb des Hauses konzentriere. Ein betrunkener Brendon bemerkt meine Blicke durch das dicke Glas und prustet laut los. Während er von seinen zwei Bodyguards zu seinem weißen Auto, das selbst in der Dunkelheit gut erkennbar ist, gezogen wird, formt er mit beiden Händen Pistolen. Er deutet mit den Fingerspitzen, also dem Ende der Waffe, aus dem der meist tödliche Schuss kommt, neben mich und „schießt" los. Begleitet von Soundeffekten, kommend aus seinem Mund, die selbst durch die Fensterscheibe hörbar sind, bombardiert er sein Ziel mit imaginären Kugeln, sein Gesichtsausdruck ist zufrieden und glücklich.

„Er will mich erschießen.", dringt eine tiefe Stimme in meine Ohren, die die Worte noch langsamer als normalerweise ausspricht. Ich ziehe den Vorhang zu, damit wir von Brendons Blicken und Schüssen abgeschirmt sind, bevor ich mich zu Harry drehe. Dieser lehnt sich mit weit aufgerissenen Augen gegen den Kühlschrank und formt seine Hände zu Fäusten, bevor er seine Finger wieder ausstreckt und den Vorgang wiederholt. Sein Blick landet auf mir, als er aufgewühlt schreit: „Dieses Arschloch will mich umbringen, weil du ihn nicht vögelst, verdammt nochmal! Wenn du nicht so beschissen stur gewesen wärst und mich in dieser Klinik eingeschlossen hättest, müsste ich jetzt keine Angst um mein Leben haben."

„Gib jetzt nicht mir die Schuld dafür, dass Brendon nicht ganz klar im Kopf ist. Wahrscheinlich blufft er nur, er bringt keine Menschen um.", wehre ich seine Anschuldigungen ab und hoffe, dass in meinen Worten ein Funken Wahrheit besteht. Ich hebe meine Hände neben meinen Kopf und setze fort: „Wir müssen jetzt zusammenhalten, weil er unberechenbar ist. In so einer Sache ist kein Platz für deine nachtragende Art."

Humorlos lacht Harry auf und stößt sich vom Kühlschrank ab. Er schreitet durch den Raum, geradewegs auf mich zu, während er raunt: „Du widersprichst dir selbst. Zuerst machst du mir weis, dass er mich nicht ermorden will, danach sagst du, dass er unberechenbar ist. Entscheide dich lieber, welche Lüge du mir erzählen willst."

„Ich weiß verdammt nochmal nicht, wie er agieren wird, Harry! Er ist psychisch labil und hat offensichtlich ein Problem mit seinen Aggressionen, das ist alles, was ich von seiner abgefuckten Persönlichkeit kenne.", rufe ich aufgebracht und weiche nach hinten aus, da mir Harrys Nähe in diesem Moment unangenehm ist. Seine Pupillen sind stark geweitet und lassen somit nur mehr einen kleinen, dunkelgrünen Ring übrig, wodurch er bedrohlich wirkt.

Mein Rücken kommt in Berührung mit der kalten Wand und Harry platziert jeweils eine Hand auf beiden Seiten neben meinem Kopf, damit ich ihm nicht entfliehen kann. Er lehnt sich hinunter zu meinem Gesicht, so nah, dass sich unsere Nasenspitzen berühren und ich seinen warmen Atem auf meiner Haut spüren kann. Seufzend sieht er mir direkt in die Augen und gesteht mir: „Ich habe Angst, May. Nicht um mich, weil ich möglicherweise sterbe, sondern um dich. Du verdienst diesen Ärger, diesen Stress nicht und trotzdem wirst du in diese beschissene Situation gezogen, in der du Gewalt am eigenen Körper erfahren musst und du dich um jemanden sorgen muss, der an dir wie ein Ballast hängt. Du leidest unter dem ganzen Druck, der auf dir liegt und dir die Luft aus den Lungen presst, und bald wirst du deshalb zerbrechen."

Ich öffne meinen Mund, einerseits, weil ich verwundert über seine Worte bin, andererseits, weil ich ihm widersprechen will. Doch Harry kommt mir schnell zuvor: „Leugne das nicht, du weißt so gut wie ich, dass ich die Wahrheit sage. Genau deshalb will ich dich vor Brendon und seinen Machenschaften beschützen, auch, wenn es mich mein Leben kosten wird. Also bitte versuche jetzt nicht, meine Retterin zu spielen, damit ich mein miserables Leben fortsetzen kann, während du langsam zerbrichst."

Plötzlich liegen seine Lippen auf meinen, so sanft, dass sich Tränen in meine Augen drängen. Er küsst mich mit solch einer Leidenschaft, mit einer Hingabe, wie ich es schon lange nicht mehr gespürt habe. Meine Wangen werden nass von meinem stummen Weinen und ich spüre Harrys Daumen und wie diese die Tropfen der Trauer von meiner Haut wischen.

Schließlich löst er sich wieder von mir und entfernt sein Gesicht von meinem, um mich wieder ansehen zu können. „Versprich mir, dass du dich nicht in irgendwelche Gefahren begibst, um mich zu beschützen.", bittet Harry mich leise, woraufhin ich sofort meinen Kopf schüttele.

„Harry, ich liebe dich so sehr, dass ich mich nicht davon abhalten kann, allein für dich waghalsig mit meinem Leben umzugehen.", hauche ich, das Ende des Satzes wird von einem lauten Schluchzer, der aus meinem Mund kommt, unterbrochen. Ich kneife meine Augen zusammen, überwältigt von dem Schmerz in meiner Seele. Zwei kräftige Arme schlingen sich um meinen Körper und ziehen mich an eine harte Brust, die mir in diesem Moment all den Halt gibt, den ich benötige.

Während ich scheinbar ohne Ende meinen Emotionen freien Lauf lasse und Harrys T-Shirt mit meinen Tränen befeuchte, streicht er mir beruhigend über den Rücken, wiegt mich in Sicherheit und flüstert mir süße, belanglose Versprechen in mein Ohr. Er küsst meinen Haaransatz und singt leise irgendein mir unbekanntes Lied, als ich die Schwäche in mir über meine gekünstelte Stärke siegen lasse.

„Ich liebe dich, May Richards. So sehr, dass ich jede Kugel auf der Welt von dir abschirmen werde, ohne mit der Wimper zu zucken. Du verdienst es, dein Leben in vollen Zügen zu genießen.", murmelt Harry und hebt mich hoch. Automatisch schlinge ich meine Beine um seinen Torso, damit ich nicht hinunterfalle. Er trägt mich durch das Haus, sein Ziel ist unser Schlafzimmer. Während er die Stiegen besteigt spüre ich, wie sein Atem sich beschleunigt und höre, wie sein Puls schneller wird. Seine Kraft lässt von Stufe zu Stufe immer mehr nach und wie letztes Mal verspüre ich die Angst vor dem Fall.

Doch trotz des Keuchens, das aus Harrys geöffnetem Mund kommt, schaffen wir es schließlich in unser Schlafzimmer. Sorgfältig legt er mich auf die weiche Matratze und seine Körperwärme verschwindet.

Ich öffne verwirrt meine Augen, um zu sehen, wohin Harry verschwunden ist und runzele meine Stirn. Sein Blick liegt bereits auf mir, ein sanftes Lächeln umspielt seine Lippen. Eine seiner Hände liegt auf dem Lichtschalter, der uns im nächsten Moment in Dunkelheit einhüllt.

„Willst du, dass ich dich in Ruhe schlafen lasse oder soll ich bei dir bleiben?", fragt Harry mich und als wüsste er meine Antwort bereits, ertönen Schritte, die mir immer näher kommen. Wenig später senkt sich die Matratze neben mir und ich spüre sofort seine Präsenz.

Harry nimmt mich in seine Arme und zieht mich näher an seine Brust, wodurch mein Atem gegen seine Haut prallt. „Schlaf gut, Liebe meines Lebens. Ich werde auf dich aufpassen, koste es, was es wolle.", flüstert er, bevor er einen federleichten Kuss auf meine Stirn haucht.

„Ich liebe dich, Harry.", sind meine letzten Worte, bevor ich in einen unruhigen Schlaf abdrifte.

Unfreeze / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt