11-Harry

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Wiederholt tippe ich dem Pfleger vor mir auf die Schulter, woraufhin er sich augenverdrehend zu mir dreht. Er verschränkt die Arme und zieht eine Augenbraue nach oben, als er mich anfährt: „Was willst du jetzt schon wieder?"

„Ich will, dass du May anrufst und sie fragst, wieso sie gestern nicht gekommen ist und ob sie vorhat, mich wenigstens heute zu besuchen.", fordere ich Liam in einer monotonen, genervten Stimme auf und sehe ihn abwartend ab. May hat mir versprochen, dass sie wieder zurückkehren würde, um mir Gesellschaft zu leisten, wenigstens für ein oder zwei Stunden. Doch ich habe vergeblich auf sie den ganzen Nachmittag in der Empfangshalle gewartet, habe zusehen müssen, wie Personen kommen und gehen. Aber keine einzige war meine Verlobte, sie hat sich einfach nicht blicken lassen. Da gebrochene Versprechen, wie dieses hier, ganz und gar nicht nach ihr klingen, wird mein Bauchgefühl nur noch mehr unterstützt und ich kann nicht aufhören, mir die schlimmsten Szenarien auszumalen. Paranoia übernimmt mein Denken und mein Handeln, wodurch mir die Ärzte nur noch mehr Medikamente geben, als könnten diese bewirken, dass ich mir plötzlich keine Sorgen mehr um May mache.

Der Pfleger direkt vor mir holt sein klingelndes Handy aus einer seiner hinteren Hosentaschen und neugierig beuge ich mich nach vorne, um den Namen auf dem Display lesen zu können. Aber Liam ist viel zu schnell und hat bereits auf den grünen Knopf gedrückt. „Hallo May! Schön, dich zu hören.", grinst er, sobald er das Telefon an sein rechtes Ohr hält.

Sofort werde ich hellhörig und versuche, sie ebenfalls zu hören, doch ihre Stimme ist viel zu gedämpft und leise, sodass ich kein einziges Wort verstehen kann. Somit bin darauf angewiesen, in Liams Gesicht zu sehen und Reaktionen von diesem abzulesen. Das selbstgefällige Grinsen auf seinen Lippen verfällt langsam, je länger May auf ihn einredet und bald hat er seine Augenbrauen zusammengezogen und fährt sich nervös durch die Haare. Meine Angst um sie wächst daher nur noch mehr und ich trete einen Schritt auf ihn zu, während ich zische: „Was ist mit ihr los?"

„Bist du dir sicher, dass Harry trotzdem in vier Tagen entlassen werden soll? In deinem Zustand kannst du dich unmöglich um ihn kümmern, du brauchst ja selber Hilfe.", ignoriert der Pfleger mich und meine Präsenz komplett, allein sein Blick, der gelegentlich auf mich fällt, verrät mir, dass er mich nicht vergessen hat. „Könntest du mir bitte das Handy geben? Ich möchte mit May reden.", bitte ich ihn laut und höflich und strecke eine Hand in seine Richtung aus.

Schon als das erste Wort meinen Mund verlassen hat, hat er sich einen Zeigefinger über die Lippen gehalten, um mir zu deuten, dass ich still sein soll. Wahrscheinlich, damit May nicht mitkriegt, dass ich in der Nähe bin. Doch sein Plan löst sich schnell in Luft auf, als er raunt: „Ja, er steht direkt neben mir. Willst du wirklich mit ihm reden?" „Gib mir einfach das verdammte Handy!", rufe ich aufgebracht und lenke dadurch die Aufmerksamkeit der anderen Patienten und Betreuer, die sich allesamt mit mir im Aufenthaltsraum befinden, auf mich. Zahlreiche Augenpaare scheinen Löcher durch mich bohren zu wollen, doch ich starre weiterhin nur Liam an mit einer ausgestreckten Hand.

Schließlich gibt er seufzend nach und blitzschnell greife ich nach dem Telefon, um es mir an mein Ohr halten zu können. Mit einem triumphierenden Grinsen auf meinen Lippen atme ich erleichtert aus: „Hallo, Baby. Ich mache mir wirklich Sorgen um dich, geht es dir gut?"

„Nenn mich ja nie wieder Baby.", ertönt ihre gereizte Stimme und beinahe bin ich froh, dass sie noch so gesund ist, mich anzufahren. Ich höre, wie sie in einen Hustenanfall ausbricht und nach einigen Sekunden röchelnd Luft holt. Anschließend fügt sie hinzu: „Es geht mir, den Umständen entsprechend, gut. Wie fühlst du dich?"

Jemand anderes, wie zum Beispiel Liam, hätte sich nicht weiterhin Sorgen gemacht um sie, doch allein durch die Formulierung des Satzes merke ich, dass bei ihr etwas nicht stimmt. Also forsche ich misstrauisch nach und ignoriere ihre Frage: „Wieso hast du mich gestern nicht besucht? Ist etwas passiert oder ist dir etwas zugestoßen?" „Können wir das Thema in Ruhe lassen? Du musst keine Angst um mich haben.", bittet sie mich genervt und obwohl ich sie nicht sehen kann, weiß ich, dass sie sich gerade die Haut über ihrem Nasenbein massiert.

„Das heißt du willst, dass ich jetzt nicht schlafen kann, weil ich überlegen werde, was mit dir los ist? In einer normalen Beziehung würde man sich erzählen, was passiert ist.", kontere ich und muss mich beherrschen, sie nicht anzufahren. Die Wut brodelt in mir, da sie sich, seitdem ich in der Klinik, nur mehr um mich kümmert und sich dabei selbst vernachlässigt. Ich höre sie leise lachen bevor sie murmelt: „Wir sind nicht normal, Harry."

Unwillkürlich bringt May mich mit dieser Aussage ebenfalls dazu in Erinnerungen schwelgend zu lachen und ihr zuzustimmen. Sie räuspert sich und setzt fort: „Aber trotzdem ist mir unsere verrückte Beziehung lieber als irgendeine langweilige mit einem uninteressanten Mann." „Schön, dass du mich noch immer interessant findest.", grinse ich und nehme zum ersten Mal, seit ich ihre Stimme wieder gehört habe, meine Umgebung wahr, da Liam mir wie wild deutet, dass ich ihm das Handy geben soll. Augenverdrehend winke ich ihn ab und wende mich von ihm ab.

„Ich werde dich definitiv am Montag abholen.", stellt May klar, als würde sie sich bald verabschieden wollen und fragt mich anschließend, bevor ich sie bitten kann, noch ein wenig mit mir zu reden: „Willst du, dass ich dir irgendetwas für deine Entlassung besorge? Besonderes Essen oder einen Film vielleicht?"

Ich schüttele meinen Kopf und verneine schnell verbal, als mir einfällt, dass sie mich nicht sehen kann. „Ich bin wunschlos glücklich, wenn ich wieder zu Hause bin.", erkläre ich ihr schief lächelnd, wobei ich meine Stirn runzele, als sie zum zweiten Mal in der kurzen Zeit einen Hustenanfall hat. Aber ich bin mir sicher, dass sie mir nicht verraten würde, weshalb sich ihre Atmung so röchelnd und beschädigt anhört, also bleibe ich still und höre ihr zu, wie sie leidet.

Schließlich verstummt May für einige Momente, wahrscheinlich, um etwas zu trinken, und verabschiedet sich schließlich von mir: „Wir sehen uns am Montag. Ich liebe dich." So schnell wie möglich hat sie aufgelegt und somit bleibt mir nur mehr die Vorstellung an sie, als ich hauche: „Ich liebe dich, May."

Unfreeze / h.sWhere stories live. Discover now