Kapitel 47

1.8K 99 12
                                    


Als ich mit meinem Auto in unseren Hof biege, ist mir völlig schleierhaft, wie ich es geschafft habe hier zu landen, ohne irgendwo auf der Strecke als menschliche Überreste zu enden. Erst ein Blick auf die Uhr verdeutlicht mir, dass ich wahrscheinlich bei der Formel eins einsteigen könnte und ich presse meine Lippen aufeinander, als ich mein Gesicht im Spiegel überprüfe. Auch wenn man dazu nicht mehr wirklich Gesicht sagen kann. Ich gleiche einem Monster. Meine Augen sind feuerrot, dick ein geschwollen von den vielen vergossenen Tränen und meine Haut ist rot gefleckt. Zusätzlich zu meinem allgemeinen Herzschmerz, sind über die ganze Fahrt hinweg weitere Erinnerungen durch mein Hirn gerauscht. Es hat eher einem Film geglichen, der nun wieder Licht ins Dunkle bringt und meine körperlichen Qualen auf ein neues Ausmaß pusht. Mir ist alles wieder eingefallen. Wie ich im Krankenhaus angekommen bin. Wie ich die Nachricht von dem Unfall bekommen habe und Stunden im Wartezimmer verbracht habe, bis ich endlich zu meiner Mutter durfte. Mein Stiefvater war sofort tot und meine geliebte Mum hatten sie für hirntot erklärt. Ich erinnere mich an den Tag, an dem wir die Geräte abgestellt und ich Johnny erklären musste, dass Mama für immer Schlafen geht. Er war fünf. Wie hätte er das begreifen können? Er hat ihr süße Träume gewünscht und gar nicht verstanden, wieso alle weinen. Die Beerdigung ist vor meinem geistigen Auge aufgetaucht und ich kann wieder die mitleidigen Blicke spüren, die mir all die fremden Menschen zugeworfen haben, als wir neben den beiden Särgen standen. Und ich erinnere mich auch wieder, wie ich an diesem Abend einfach zusammengeklappt bin. Ein waschechter Nervenzusammenbruch, der nach Tagen eingeleitet wurde, an denen ich wie eine Maschine funktioniert hatte. Danach war da dieses schwarze Loch, das nun wieder mit ganz viel Licht erfüllt ist. Dass mir ein bisschen Klarheit verschafft und mich trotzdem bis in die Tiefen meiner Seele verletzt.

Was allerdings das grausamste an dieser Situation ist, sind die Erinnerungen an all die Momente, in denen ich mein Handy in der Hand gehalten habe und jedes Mal kurz davor war, Marco zu schreiben. Doch ich wurde immer abgelenkt, oder ich hatte nicht die richtigen Worte gefunden. Dieser Schmerz, den ich jetzt fühle und der mich von innen heraus zerreißt, wäre nun nicht da, hätte sich irgendetwas in der Vergangenheit verschoben. Nur eine winzige Kleinigkeit hätte anders laufen müssen, um mir diesen Schmerz zu ersparen. Es wirkt fast so, als hätte es genau so kommen müssen. Als hätte sich irgendein Idiot da oben diesen Mist ausgedacht. Und diese Erkenntnis schmerzt mehr als alles andere.

Wild fahre ich mir durchs Gesicht, kneife in meine roten Wangen und steige seufzend aus dem Auto. Wenigstens heule ich nicht mehr. Ist wahrscheinlich kein Wasser mehr übrig. Erschöpft schlurfe ich zur Haustür, öffne möglichst leise die Tür und schnaufe tief durch, als mir im selben Augenblick auch schon meine Grams entgegenkommt. Mein Plan hier unbemerkt nach oben zu schleichen ist damit wohl auch gescheitert. „Du bist ja schon zurück", begrüßt sie mich und kommt mit ausgestreckten Armen auf mich zu. Kurz bevor sie bei mir angekommen ist, stockt sie und kneift die Augenbrauen zusammen. „Was ist denn los, Mäuschen?" Sie schließt mich in eine innige Umarmung und ich schlucke meinen erneut drohenden Heulkrampf herunter. „Kimmyyyyyy", brüllt mein Bruder überschwänglich und kommt aus der Küche gestürmt. „Wir war's? Hast du Messi getroffen? Und hast du mit jemandem geredet? Hast du Autogramme bekommen?", schießt er los und ich löse mich von meiner Oma, lächele ihn möglichst aufrichtig an, während sie mich mitleidig mustert. „Lass sie doch erstmal reinkommen", meint sie an Johnny gewandt, dem das gar nicht passt, „willst du einen Kaffee, Liebes? Oder etwas Essen?" Ich schüttle nur mit dem Kopf und zwinkere meinem Bruder zu. „Ich will einfach nur in mein Bett", stöhne ich und wuschele anschließend über Johnnys Afro, „ich erzähle dir später alles, ja?" Ohne eine Antwort abzuwarten, wackele ich die Treppen nach oben und höre noch, wie die beiden zu Diskutieren anfangen. Doch ich kriege nichts mehr wirklich mit. Jeder Muskel in meinem Körper tut weh und erinnert mich nur wieder an den ganzen Scheiß, den ich die letzten Stunden über fabriziert habe, sodass ich mich wimmernd auf mein Bett schmeiße. Hastig ziehe ich mir die Bettdecke bis zum Hals und vergrabe mein Gesicht im Kissen.

Regenbogen [Marco Reus]Kde žijí příběhy. Začni objevovat