„Ich muss nur kurz...“ Er führt den Satz nicht zu Ende und springt auf. Wie gerne würde ich ihm hinterherlaufen, um mich zu vergewissern, dass es ihm gut geht. Aber meine Beine gehorchen mir nicht, wie immer. Er taumelt kurz, hat sich aber gleich wieder gefangen, stützt sich am Verandapfosten ab und eilt ins Haus. Und ich sitze auf dem Rasen und kann nichts unternehmen.

Alice ist glücklich. Das sieht man ihr an. Wie ihre Augen leuchten und sie fast die ganze Zeit lächelt. Sie fühlt sich eindeutig wohl in seiner Nähe. Alice ist zwar nicht meine leibliche Tochter, aber über die vielen Jahre, die ich sie habe aufwachsen sehen, ist sie mir ans Herz gewachsen wie Marie. Ich hätte auch keine Probleme, sie so zu nennen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass das ihr zu viel wäre. Sie kann mich nicht Mutter nennen, was ich zwar schade finde, aber dennoch gut verstehen kann. Ich bin froh, dass sie Ciaran gefunden hat. Zwar war ich zuerst skeptisch, aber er hat in meinen Augen Zuverlässigkeit bewiesen und Alice ist glücklich, wenn sie bei ihm ist, und das ist für mich die Hauptsache. Thomas denkt darüber anders. Er meint, Alice sei für einen Freund noch zu jung und die beiden würden nicht zusammen passen, aber ich weiß auch, dass das nur von den Vatergefühlen herrührt, die er für Alice hegt. Für uns beide ist sie viel zu schnell erwachsen geworden, und auch Thomas wird das akzeptieren müssen.
Plötzlich richtet sich Ciaran auf, hält sich an die Stirn. Er steht auf, wobei er offenbar wackelig auf den Beinen ist, denn er taumelt und muss sich, als er die Veranda erreicht, erst einmal festhalten, bevor ins Haus stolpert. Ich springe auf, um ihm nachzueilen. Sorge breitet sich in mir aus. Es könnte sonst etwas sein. Vielleicht ist ihm einfach nur schwindelig, womöglich schlecht, oder, am schlimmsten, er hat einen Hitzeschlag.
Weder im Wohnzimmer noch in der Küche ist er zu finden. Schließlich entdecke ich ihn im Flur bei seinem Rucksack. Seine Hände zittern, als er ein kleines Döschen zudrückt und in seine Tasche zurücksteckt.
„Ciaran?“, frage ich und verschränke die Arme vor meiner Brust. Er erstarrt. „Was ist das?“ Als er sich aufrichtet und langsam umdreht, erschrecke ich. Seine Augen stechen rötlich von seiner blassen Haut ab und alles an ihm, seine Körperhaltung, seine hängenden Schultern, sein Gesichtsausdruck, strahlen seine Verzweiflung und Hilflosigkeit aus. Ein stummer Hilfeschrei liegt in seinem Blick, sodass ich nicht anders kann, als ihn umarmen. Nach kurzem Zögern legt auch er seine Arme um mich. Er ist größer als ich, aber in diesem Moment ist er wie ein Sohn, der Trost braucht. Seine Schultern beginnen zu beben und ich streiche über seinen Rücken.
„Ich habe wirklich versucht, aufzuhören“, schluchzt er mit heiserer Stimme. „Für Alice. Aber es... es geht einfach nicht.“
„Sht“, versuche ich, ihn zu beruhigen, „du musst daran glauben, dass es geht. Außerdem bist du nicht alleine. Lass dir helfen. Es gibt Menschen, die darauf spezialisiert sind.“
„Ich will aber nicht, dass Alice... Ich will ein guter Freund für sie sein, verstehst du? Ich will für sie da sein, ihr helfen, aber wie soll ich das können, wenn ich nicht mal mit mir selbst klarkomme?“
„Vielleicht ist es ja gut so. Vielleicht ist es so, dass ihr beide eure Schwächen habt und euch gegenseitig stützt und... unterstützt, weißt du, was ich meine?“
„Ja... Nein... Ich weiß nicht.“
„Sag es ihr. Sei ehrlich zu ihr und lass dir von ihr helfen. Geteiltes Leid ist halbes Leid.“
Er löst sich wieder von mir und sieht mir in die Augen. „Vielleicht hast du recht. Vielleicht... sage ich es ihr. Vielleicht...“
„Das ist immerhin ein Anfang.“ Ich lächele und hoffe, ihm damit Mut machen zu können. Er geht zum Waschbecken, spritzt sich Wasser ins Gesicht und lächelt probeweise. Und dann wird dieses Lächeln echt und aufrichtig und ich weiß, dass er an Alice denkt. Ich werde trotzdem Grace benachrichtigen. Sie ist immerhin erwachsen und soll sich um ihren Bruder kümmern, wenn es schon keine Eltern gibt. Wenn das nicht funktioniert, werde ich andere Maßnahmen ins Leben rufen müssen.

Ich bin erleichtert, als ich sehe, dass Sabine ihm nachläuft. Trotzdem ziehen sich die Minuten, bis er endlich wieder aus dem Haus kommt. Kurz wirkt sein Lächeln aufgesetzt, doch als er sich neben mich setzt, geht es ihm zum Glück wieder gut.

Gehandicapt - Eine besondere LiebesgeschichteWhere stories live. Discover now