𝔼𝕚𝕟𝕦𝕟𝕕𝕗ü𝕟𝕗𝕫𝕚𝕘

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Meine sonst lockigen Haare hingen mir in nassen Strähnen über die Schultern, als ich endlich den alten Holzzaun vor dem verlassenen Grundstück erreicht hatte. Vielleicht war es keine gute Idee, die halbe Stunde Fußweg bei über dreißig Grad im Laufschritt zurückzulegen, aber alles woran ich denken konnte, war Dylan.

Hektisch kletterte ich über den Zaun und stolperte regelrecht über den unebenen Boden, bis endlich die rote Außenverkleidung der Scheune in Sichtweite lag. Einen Moment verweilte ich im Schatten einer großgewachsenen Eiche, den Blick gebannt auf das Gebäude gerichtet.

Augenblicklich blitzten Erinnerungen der gemeinsamen Momente mit Dylan vor meinem inneren Auge auf, welche sich bittersüß um meinen Verstand zu legen schienen. Ich blinzelte ein paar Mal, um mich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, bevor ich mich langsam der Scheune näherte.

War Dylan wirklich dort? Hatte er meinen Brief gelesen?

Und wenn ja, war er überhaupt bereit mich anzuhören?

Mein Puls raste, während mein Körper von einem Adrenalinschub geflutet wurde. Die fast schon unheimliche Stille suggerierte mir, allein zu sein, aber ich hoffte inständig, dass der Schein trügte.

Als ich das Innere betrat, schlug mir sofort der vertraute Geruch von sonnenerwärmtem Holz und vertrocknetem Gras entgegen. Mit geschlossenen Augen inhalierte ich den Duft, redete mir ein, er würde beruhigend auf meine aufgewühlte Verfassung einwirken. Bisher hatte ich keinen Laut von mir gegeben, wenn er sich also tatsächlich im oberen Bereich aufhalten sollte, wusste er noch nichts von meinem Besuch.

Kurz überlegte ich, vielleicht doch durch Rufen oder Räuspern auf mich aufmerksam zu machen, entschied mich dann jedoch dagegen. Leise begab ich mich zur Leiter, mein Herz schlug mittlerweile so laut, dass ich befürchtete, es könnte mich verraten.

Die Leiter knarzte verdächtig unter meinen Füßen, was mich kurz zusammenzucken ließ. Als ich soweit war, um über den oberen Boden sehen zu können, musste ich meine Hände fester um die seitlichen Griffe pressen. Anderenfalls hätte der Anblick, der sich mir bot, wohl dazu geführt, auf der Stelle das Gleichgewicht zu verlieren.

Dylan war tatsächlich dort. Ganz friedlich lag er auf dem Stück Stoff und schlief. Er hatte sich offensichtlich eine weitere Decke von seiner Tante mitgebracht, diese lag jedoch – wahrscheinlich aufgrund der Hitze – ungenutzt neben ihm.

Einen kurzen Moment betrachtete ich ihn und wünschte, ich könnte mich einfach neben ihn legen. Sein Gesicht schien vollkommen entspannt, während ich wie hypnotisiert seinen regelmäßigen Atemzügen lauschte. Irgendwann riss ich mich aus meiner Trance und schloss zu ihm auf.

Gerade als ich ihn vorsichtig wecken wollte, fiel mir ein weiteres Detail auf: Er hielt meinen Brief in seiner Hand. Offenbar hatte er ihn gelesen!

»Hey«, flüsterte ich leise, aber anscheinend nicht laut genug, um ihn auf mich aufmerksam zu machen. Aufgeregt versuchte ich es erneut, diesmal mit Erfolg. Erschrocken riss er seine Augen auf, bis sein Blick überrascht an mir hängenblieb. »Ich wollte dich nicht erschrecken«, schob ich unsicher nach, während ich fest damit rechnete, sofort von ihm weggeschickt zu werden.

»Was machst du denn hier?« Die Verwirrung war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Offenbar hatte er nicht angenommen, an diesem Ort gefunden zu werden.

»Ich ... ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Bitte schick mich nicht gleich wieder fort«, erklärte ich leise und deutete vorsichtig auf den äußersten Rand der Decke, »darf ich?«

Er schien mit sich zu hadern, aber schließlich richtete er sich ein Stück auf und bedeutete mir, Platz zu nehmen. Ungelenk ließ ich mich auf die Decke sinken, da ich nicht wusste, wie ich mich verhalten sollte. In meinem Kopf hatte ich zuvor alle möglichen Gesprächsszenarien durchgespielt, aber nun konnte ich keinen klaren Gedanken fassen.

»Hast du meinen Brief gelesen?«, vergewisserte ich mich schließlich, obwohl ich mir ziemlich sicher war, die Antwort bereits zu kennen.

»Ja«, gab er knapp zurück, den Blick durch eines der Deckenlöcher in den Himmel gerichtet.

»Ich weiß, dass ich dich enttäuscht habe und es tut mir leid.« Mehr brachte ich tatsächlich nicht hervor, woraufhin ich mir innerlich gegen die Stirn klatschte. Wo waren irgendwelche originellen Redewendungen, wenn man sie brauchte?

»Du hast kein Staatsverbrechen begangen, Claire.« Nun sah er mir direkt die Augen. »Allerdings bin ich einfach zu kaputt, um mit solchen Dingen umgehen zu können.«

»Meine Unehrlichkeit ist nicht deine Schuld«, widersprach ich heftig. »Wenn ich –«

»Das Spiel habe ich schon zu oft gespielt, glaub mir«, unterbrach er mich mit einem bitteren Lachen und ich musterte ihn verwirrt.

»Welches Spiel?«

»Das was-wäre-wenn-Spiel. Vertrau mir, es bringt nichts als Kummer und Schmerz.«

»Du hast recht«, stimmte ich sofort zu, bevor ich ein anderes Thema aufgriff. »Megans Besuch war übrigens nicht meine Idee, ich hatte keine Ahnung ...«

»Etwas Anderes habe ich auch nicht erwartet.«

»Meinst du, wir können nochmal von vorne anfangen? Ganz ohne Heimlichkeiten und Lügen?« Ich hasste es, wie verzweifelt ich klang, aber dennoch war es das, was mir auf der Seele brannte. Ihn für immer verloren zu haben, war einfach keine Option.

»Ich werde zurück nach Folkestone gehen.«

»Das weiß ich doch, aber wir hätten noch den Rest des Sommers und–«

»Nein, hätten wir nicht. Mein Flug geht übermorgen.«

»Was?« Es dauerte einen Moment, bis die Bedeutung seiner Worte bei mir angekommen war, aber dann konnte ich nicht anders, als mir verloren die Hände vor mein Gesicht zu schlagen. Heiße Tränen bahnten sich unaufhaltsam ihren Weg, während meine Fassade unbarmherzig in sich zusammenfiel.

Er würde mich verlassen und es gab nichts, was ich dagegen tun konnte.

Vollkommen unerwartet zog er mich in seine Arme und obwohl ich mir zuvor nichts mehr als das gewünscht hatte, spendete seine Nähe keinen Trost. Im Gegenteil, die plötzliche Vertrautheit zwischen uns gab mir den Rest und ich begann hemmungslos gegen seine Schulter zu schluchzen.

»Du wärst einfach so abgereist? Ohne mich nochmal wiederzusehen?« Die Verzweiflung in meiner Stimme war unüberhörbar, aber ich war unfähig, sie länger zurückhalten zu können.

»Ich hätte mich morgen bei dir gemeldet«, antwortete er, aber seine Worte konnten den Schmerz in meinem Herzen nicht lindern.

Eine Zeit lang sagte keiner ein Wort, aber immerhin versiegte mein Tränenfluss nach einer Weile.

»Danke für deinen Brief. Ich schätze, er hat mich irgendwie zur Vernunft gerufen«, wandte er sich irgendwann doch wieder an mich, aber ich konnte nur müde mit dem Kopf schütteln. Wenn er auch nur im Ansatz das bewirkt hätte, was ich mir versprochen hatte, würde Dylan nicht in zwei Tagen in den Flieger steigen.

»Du hast gesagt, du hättest dich in mich verliebt«, presste ich nach einiger Zeit kraftlos hervor und ich konnte bereits aus dem Augenwinkel erkennen, wie er zustimmend nickte.

»Das meinte ich auch so.« Seine Stimme klang plötzlich ganz weich, was mich dann doch irritiert zu ihm aufsehen ließ. Warum zur Hölle wollte er mich dann verlassen?

»Ich verstehe einfach nicht, wieso alles um uns herum innerhalb eines Wimpernschlages in sich zusammenfällt ...«

»Meine Reaktion hat mir verdeutlicht, dass ich einiges aufzuarbeiten habe und es ist wichtig, dass ich dort beginne, wo der Ursprung meiner Geschichte ist und nicht weiterhin am anderen Ende der Welt so tue, als sei nichts geschehen.«

So sehr ich ihm auch wiedersprechen wollte ... Seine Worte machten Sinn. Natürlich musste er sein Trauma aufarbeiten und eigentlich sollte ich glücklich darüber sein, ihm auf seinem Weg dabei geholfen zu haben, sich dafür bereit zu fühlen. Dennoch war mein Herz unglaublich schwer. Traurig, aber gleichzeitig auch stolz auf ihn, rutschte ich ein Stück näher an ihn heran, um meinen Kopf auf seiner Schulter abzulegen.

Zaghaft legte er seinen Arm um mich und ich akzeptierte schließlich schwermütig, dass sich unsere gemeinsame Zeit dem Ende zuneigte.

Who Is Dylan?Where stories live. Discover now