𝔸𝕔𝕙𝕥𝕫𝕖𝕙𝕟

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Erst rechnete ich fest damit, dass er mich wegstoßen würde. Als dies nicht geschah, verschwendete ich keine Gedanken daran, wie absurd diese Situation eigentlich war. Stattdessen fühlte ich das dringende Bedürfnis ihm Trost zu spenden und schloss meine Augen für einen Moment, fast so, als versuchte ich einen Teil seines Schmerzes in mich aufzunehmen. Keine Ahnung, wie lange wir in dieser Position verweilten, aber irgendwann räusperte Dylan sich.

Ich verstand den Wink mit dem Zaunpfahl, löste meine Arme und trat verlegen einen Schritt zur Seite. Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob ich mit meiner Umarmung zu weit gegangen war. Hatte ich ihn womöglich verärgert oder würde er sich gar über mich lustig machen?

»Hm«, seufzte er schließlich. Er sah mir direkt in die Augen, woraufhin sich ein unangenehmes Kribbeln in meiner Magengegend meldete. Ich war jedoch zu verwirrt, um weiter darüber nachzudenken. »Ich bin mir sicher, Greg hätte dich gemocht«, schob er nachdenklich hinterher.

»Willst du darüber reden?«, erwiderte ich vorsichtig. Irgendwie fand ich immer mehr Gefallen daran, mich ihm anzunähern, weshalb mein Vorschlag nicht ganz uneigennützig war. Das Gefühl, mehr über ihn zu erfahren zu wollen, war noch immer präsent.

»Hast du irgendwem davon erzählt?« Er stieß sich vom Geländer ab und kam einen Schritt auf mich zu, während er mein Gesicht aufmerksam scannte.

»Wovon genau?«, brachte ich krächzend hervor. Diese Gegenfrage war zugegebenermaßen ziemlich dämlich, aber sie verschaffte mir zumindest ein paar Sekunden länger Zeit, um mir eine halbwegs plausible Antwort zu überlegen.

»Hast du?« Er verringerte erneut die Distanz zwischen uns, ohne auf meine Äußerung einzugehen. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt, weshalb ich seine Körperwärme nun ganz deutlich spüren konnte.

Automatisch schnellten meine Gedanken zu Megan und der Anfrage an das Archiv. Ich versuchte die Erinnerung daran wegzublinzeln, bevor ich seinen Blick erwiderte. »Nein«, behauptete ich also, obwohl sich sofort mein schlechtes Gewissen meldete.

Er nickte zufrieden und trat wieder einen Schritt zurück. Währenddessen ignorierte ich meinen rasenden Puls und die Tatsache, dass meine Handinnenflächen inzwischen vollkommen verschwitzt waren.

»Zuerst erzählst du mir etwas über dich«, bestimmte er und spielte damit auf meine ursprüngliche Frage an. Danach machte er mit einer Geste deutlich, die Brücke tatsächlich wieder verlassen zu wollen.

Also setzten wir uns langsam in Bewegung. Ich war mehr als erleichtert, endlich diesen Ort verlassen zu können.

»Was willst du denn wissen?« Klang meine Stimme immer eigentlich immer so piepsig oder lag das an seiner Gegenwart?

»Erzähl mir etwas, wovon du denkst, es würde mich interessieren«, antwortete er schulterzuckend. Mittlerweile hatten wir den Fußgängerweg der Brücke verlassen und er war bereits im Begriff, erneut die Promenade anzusteuern, als ich ihn kurzerhand in die andere Richtung zog. Ich hatte nämlich keine Lust darauf, am Lokal meiner Eltern vorbeizugehen und Gefahr zu laufen, von den beiden mit Dylan gesehen zu werden.

»Mein Name ist Claire Walsh, ich bin siebzehn, habe eine ältere Schwester namens Danielle und werde nach den Sommerferien endlich das Abschlussjahr an meiner Highschool machen. Wie du mittlerweile weißt, arbeite ich im Lokal meiner Eltern und habe in meiner Freizeit immer eine Kamera zur Hand.«

Als ich ihn nach meinem Monolog von der Seite musterte, schien er unbeeindruckt. Er kickte beiläufig ein kleines Steinchen aus dem Weg, den Blick stur auf den Boden gerichtet. Irgendwie befürchtete ich in diesem Moment, ihn mal wieder zu langweilen. »Außerdem habe ich dafür gesorgt, dass meine Schwester von ihrem Freund verlassen wurde.«

Oh Gott, was stimmte nicht mit mir? Abgesehen davon, dass ich es noch nie einer Menschenseele erzählt hatte, war dies wahrlich nichts, worauf ich stolz sein konnte. Trotzdem schien meine unbedachte Aussage seine Aufmerksamkeit geweckt zu haben.

»Wie das?«, hakte er neugierig nach. Er betrachtete mich abwartend und obwohl ich am liebsten zurückgerudert wäre, entschied ich mich für die Wahrheit.

»Danielle und Quentin waren damals etwas über ein Jahr zusammen. Er hat sich immer gewünscht, dass sie ihn öfter zu seinen Basketballspielen begleitet, aber meine Schwester wollte lieber Party machen. Sie gab dann vor, mit ihren Freundinnen lernen zu müssen, um ihn nicht zu enttäuschen. In Wahrheit ging sie jedoch dauernd feiern.« Ich stockte kurz in meiner Ausführung, denn es fühlte sich furchtbar an, es auszusprechen. Nicht einmal Megan wusste darüber Bescheid.

»Und?«

»Naja ...«, fuhr ich leise fort. »An einem Abend hatten Danielle und ich mal wieder Streit. Ich kann dir nicht mal mehr sagen, worum es ging. Sie hat sich anschließend von ihren Freundinnen abholen lassen, um mit ihnen mal wieder auf irgendeine Hausparty zu gehen. Zufällig lag die Adresse der Party Location noch auf Danielles Schreibtisch herum und ... ich ... mir ist irgendwie eine Sicherung durchgebrannt. Ich habe mir kurzerhand einen Fakeaccount auf Instagram erstellt und Quentin eine anonyme Nachricht über den wahren Aufenthaltsort seiner Freundin geschickt.«

»Wow, das hätte ich dir wirklich nicht zugetraut«, gab Dylan überrascht zu. »Wie ist die Geschichte ausgegangen?«

»Wie wohl? Quentin ist gleich nach seinem Spiel zu der Party gefahren, wo er Danielle total betrunken aufgefunden hat. Er hat sie noch an dem Abend verlassen und meine Schwester war daraufhin am Boden zerstört.«

»Ein richtiger Bitch-Move.« Dylan war stehengeblieben und musterte mich mit einer Mischung aus Faszination und Skepsis. »Hat sie jemals herausgefunden, dass du dahintersteckst?«

»Wenn sie das wüsste, würde sie mich wahrscheinlich eigenhändig umbringen.« Allein die Vorstellung trieb mir die Schweißperlen auf die Stirn, weshalb ich augenblicklich versuchte, sie aus meinen Gedanken zu verbannen.

Er nickte verstehend, stellte aber glücklicherweise keine weiteren Fragen zu diesem Thema. Mittlerweile waren wir fast bei meinem Haus angekommen, welches ich schon deutlich in einiger Entfernung ausmachen konnte.

»Musst du morgen arbeiten?«

»Meine Eltern haben mir kürzlich mehr Freiheit gewährt, deshalb werde ich morgen wohl nicht im Restaurant sein.«

»Soll ich dich morgen Abend abholen? Wir könnten zusammen abhängen.«

Seine Frage traf mich so unvermittelt, dass ich ihn für einen Moment nur mit großen Augen anstarrte. Erneut kribbelte es in meiner Magengegend, während ich meine Zustimmung lediglich mit einem stummen Nicken signalisieren konnte.

Who Is Dylan?Where stories live. Discover now