𝕊𝕚𝕖𝕓𝕫𝕖𝕙𝕟

453 66 69
                                    

Einen Moment lang starrte ich ihn fassungslos an, unfähig auch nur ein Wort herauszubringen. Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit immer noch stumm auf der Stelle verweilte, zog mein Gesprächspartner plötzlich etwas aus der Tasche seines Kapuzenpullovers.

»Hast du etwas dazu zu sagen?«, wollte er von mir wissen, während er mir den Brief direkt vor die Nase hielt. Dass es sich dabei um jenes Schriftstück handelte, wusste ich, ohne überhaupt hinzusehen.

»Ich ... Ähm ...«, stammelte ich unbeholfen, noch immer darauf bedacht, den Brief nicht direkt anzusehen. Plötzlich war ich versucht, einfach alles abzustreiten.

»Du hast ihn gelesen und dann nicht den Mut gehabt, ihn mir persönlich wiederzugeben?«, sprach er das Offensichtliche aus. »Wo hast du ihn gefunden?«

Es zu leugnen war zwecklos, wie mir nun endgültig klar wurde. Wer außer mir sollte auch sonst ein an ihn adressiertes Schriftstück in den Briefkasten von Mrs. Foster werfen?

»Er ist dir aus der Tasche gefallen, als du ... als ich ... dich auf der Brücke überrascht habe«, brachte ich schließlich unter leichtem Krächzen hervor. Intuitiv verlagerte ich mein Gewicht von einem Bein auf das andere, in Sorge, ansonsten einfach umzufallen.

»Und warum hast du so lange gebraucht um ihn mir wiederzugeben? Ist ja nicht so, als hättest du heute erst herausgefunden, wo du mich findest.« Seine blauen Augen funkelten mich herausfordernd an. Er schien aufgebracht, aber gleichzeitig interessiert daran, mein Verhalten zu analysieren.

»Das war nicht in Ordnung von mir. Aber entschuldige bitte, wenn ich keinen Ratgeber zum Umgang mit potentiellen Selbstmördern griffbereit hatte!« Oh Gott, hatte ich das gerade wirklich laut ausgesprochen? Erschrocken schlug ich mir eine Hand vor den Mund. »Es tut mir leid«, schob ich leise hinterher, allerdings schien er über meine Äußerung eher überrascht als verärgert zu sein.

»Selbstmörder? Das denkst du von mir?«, griff er meine Wortwahl auf. Das schiefe Grinsen in seinem Gesicht verwirrte mich dabei nur noch mehr.

Langsam ließ ich meine Hand sinken. »Du bist über das Geländer geklettert und hast dich über den Fluss gebeugt. Ich denke, das spricht wohl für sich.«

Anstelle einer Antwort griff Dylan nach meinem Arm und zog mich mit schnellen Schritten über die Promenade in Richtung Brücke. Ich hätte mich wehren können, aber die plötzliche Nähe zu ihm und der Überraschungseffekt ließen mich verstummen. Außerdem war ich neugierig darauf, was er vorhatte.

Das Rauschen des Flusses und der Lärmpegel der Touristen auf der Promenade vermischten sich zu einem kaum auszuhaltenden Strudel an Geräuschen, die erst verebbten, als wir die Brücke betraten. Es waren erneut nur einzelne Personen auf dem Fußgängerweg unterwegs, so dass wir hier quasi ungestört schienen.

»Du denkst, ich will sterben?« Abrupt ließ er meinen Arm los und trat stattdessen an das Geländer heran. Die Wärme seiner Berührung verweilte noch für einen Moment auf meiner Haut, während ich ihn ängstlich beobachtete. Was hatte er vor?

Mit einer schwungvollen Bewegung sprang er über das Geländer, nur um sich auf der anderen Seite erneut gefährlich weit über das Flussbett zu beugen.

»Nicht!«, brach es auf einmal aus mir hervor und ohne darüber nachzudenken stürmte ich ebenfalls an das Geländer, um meine Arme von hinten um seinen Brustkorb zu schlingen. Mein Kopf lehnte an seinem Rücken und ich konnte deutlich seinen Herzschlag spüren. Seltsamerweise schien er sich erst durch meine Berührung zu beschleunigen.

»Wenn ich springen wollte, wäre ich schon hunderte Male gesprungen. Nicht von dieser Brücke, sondern schon von den Klippen in Folkestone, Kirchtürmen oder einfach von irgendeinem verdammten Haus.« Seine Stimme klang plötzlich überhaupt nicht mehr so cool und unbeeindruckt. Zwar konnte ich sein Gesicht nicht sehen, aber ich war mir fast sicher, dass er mit den Tränen kämpfte.

»Kannst du bitte wieder auf die andere Seite des Geländers kommen?«, flehte ich leise, während ich ihn noch immer fest umklammerte. Ich hatte keine Ahnung, was er mir mit seiner Offenbarung sagen wollte, aber die Angst vernebelte meine Sinne.

»Dafür müsstest du mich erstmal loslassen«, erwiderte er plötzlich trocken. Ganz langsam löste ich meine Hände, woraufhin er sein Versprechen hielt und zu mir auf den Fußweg der Brücke zurückkehrte.

Erst jetzt löste sich das eisige Korsett, was meine Lungen davon abgehalten hatte, ausreichend Sauerstoff aufzunehmen. Ich konnte nicht anders, als einen tiefen Atemzug zu nehmen und mich anschließend überfordert gegen das Geländer zu lehnen.

»Spinnst du?«, brachte ich irgendwann schluchzend hervor, nicht mehr fähig, die Tränen der Anspannung zurückzuhalten. »Denkst du echt, es bringt Greg zurück, wenn du andere Leute denken lässt, du willst dein Leben beenden?« Die Worte sprudelten einfach aus mir heraus, ohne dass ich über mögliche Konsequenzen nachdenken wollte.

»Ich wollte dabei nicht gesehen werden«, rechtfertigte er sich. Offenbar war er von meinem Gefühlsausbruch überrascht und fühlte sich nun genötigt, eine Erklärung abzugeben. »Es war niemand auf der Brücke, als ich über das Geländer geklettert bin. Du bist aus dem Nichts aufgetaucht und als ich dich bemerkt habe, bin ich abgehauen. Was hätte ich auch sonst tun sollen?«

»Gar nicht erst über das verdammte Geländer klettern?!« Mittlerweile hatte ich mich wieder gefasst und spürte einfach nur eine unglaubliche Wut.

»Wenn es das Einzige ist, was dich irgendwas fühlen lässt, ist es nicht so einfach damit aufzuhören.«

Seine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Die aufgestaute Wut verpuffte und ich konnte nicht anders, als kraftlos meine Schultern hängen zu lassen.

»Ich habe den Brief gelesen«, begann ich schließlich im Flüsterton, ohne ihn dabei anzusehen. »Zwar habe ich keine Ahnung, wer Greg war, aber offensichtlich hast du ihm sehr nahegestanden und ich bin mir sicher, er würde nicht wollen, dass du dich in Gefahr begibst.«

Dylan zog scharf die Luft ein. Dann trat er unvermittelt neben mich, den Blick auf das schwarze Gewässer unter uns gerichtet. »Du hast recht. Er würde mir vermutlich eine verpassen«, gab er mit einem bitteren Lachen zu.

Ganz langsam hob ich meinen Blick und betrachtete nachdenklich sein Seitenprofil. Er sah verloren aus und trotzdem unnahbar. Mir fehlten mal wieder die Worte, weshalb ich einem spontanen Impuls folgte und ohne Vorwarnung erneut vorsichtig meine Arme um ihn legte.

Who Is Dylan?Место, где живут истории. Откройте их для себя