𝔼𝕚𝕟𝕦𝕟𝕕𝕕𝕣𝕖𝕚ß𝕚𝕘 // 𝔻𝕪𝕝𝕒𝕟

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Dylan

Ich konnte nicht genau definieren, wie ich mich fühlte. Wahrscheinlich lag es auch ein bisschen daran, dass ich lange Zeit gar nichts spüren wollte. Nach allem, was passiert war, schien es mir nicht fair, Gefühle zuzulassen, erst recht keine positiven. Doch waren es genau diese Empfindungen, die langsam wieder zurückkehrten.

Lag es an Claire? Wahrscheinlich. Sie auf dem Riesenrad zu küssen hatte mir endgültig klargemacht, dass ich mich nicht ewig verschließen konnte. Ehrlich gesagt würde es mich nicht wundern, wenn Greg seine Finger im Spiel hatte. Wahrscheinlich hätte er mir ohnehin schon längst einen Arschtritt verpasst, wenn er die Chance dazu gehabt hätte.

Es schmerzte noch immer unglaublich, ihn nicht mehr um mich zu haben. Auch die Tatsache, durch meinen Egoismus dazu beigetragen zu haben, lastete schwer auf meinen Schultern. Und doch konnte ich nicht länger leugnen, dass sich der dichte Nebel, welcher mich seit Gregs Tod stets begleitete, langsam lichtete.

Nach dem Riesenrad waren wir noch eine Zeit lang über den Jahrmarkt geschlendert. Sie schien glücklich, während sie die übergroße Stoff-Katze die ganze Zeit fest umschlossen hielt. Keiner von uns verlor ein Wort über den Kuss und ehrlich gesagt war ich froh darüber, es nicht thematisieren zu müssen.

Obwohl ich nicht wollte, wanderten meine Gedanken irgendwie zu Gianna. Seit Gregs Beerdigung hatte ich kein Wort mehr mit ihr gewechselt. Jeglichen Annäherungsversuch ihrerseits im Keim erstickt. Wenn ich nun an die gemeinsame Zeit mit ihr dachte, kam es mir fast so vor, als würde ich auf ein anderes Leben zurückblicken. Wir waren nie richtig zusammen, aber trotzdem war sie das letzte Mädchen mit dem ich auf die Art Zeit verbracht hatte. Rückblickend betrachtet konnte ich mich nicht mehr mit meiner Vergangenheit identifizieren. Damals fühlte ich mich angezogen von unverbindlichem Spaß, heute hingegen reizte es mich – mal abgesehen von meinem Fast-Absturz mit der Cheerleaderin auf der Party – überhaupt nicht mehr. Allerdings war ich zu dem Zeitpunkt auch so voll gewesen, dass ich mich kaum noch daran erinnerte.

Das alles schien so unbedeutend. Fast schon grotesk.

Ganz im Gegensatz zu Claire. Rational betrachtet kannten wir uns noch nicht lange und doch fühlte es sich seltsam vertraut an. Sie war genau zum richtigen Zeitpunkt in meinem Leben aufgetaucht. Auch wenn ich nie wirklich vorgehabt hatte, zu sterben, konnte ich nicht ausschließen, dass es vielleicht doch irgendwann dazu gekommen wäre. Ehrlich gesagt wäre es mir egal gewesen. Ich hatte nichts mehr zu verlieren.

Zumindest dachte ich das.

Immer auf der Suche nach dem nächsten Kick. Wenigstens für einen kurzen Sekundenbruchteil spüren, wie mein Körper von Adrenalin geflutet wurde. Kein Gebäude zu hoch, keine Möglichkeit zu gefährlich. Wenn es das Einzige ist, was dich etwas spüren lässt, läuft irgendetwas gewaltig schief, aber Aufhören war nie eine Option.

Bis sie in meinem Leben aufgetaucht war.

Ich konnte nicht mal benennen, was es war. Ihre unschuldige, tollpatschige Art? Vielleicht. Vielleicht aber auch einfach ihr aufrichtiges Interesse und die Tatsache, dass sie mich nicht mit diesen mitleidigen Augen ansah, so wie es die meisten Menschen taten, wenn sie von meiner Geschichte erfuhren.

Wohin diese Sache mit ihr führte? Keine Ahnung. Das Einzige, was ich wusste: Es fühlte sich gut an, in ihrer Nähe zu sein.

Natürlich hatte ich sie nach dem Kirmesbesuch nach Hause begleitet. Wollte ich sie vor der Haustür noch einmal küssen? Definitiv. Trotzdem schien es mir besser, es nicht zu überstürzen, weshalb ich sie lediglich in eine kurze Umarmung gezogen hatte.

Auf dem anschließenden Weg nach Hause waren mir alle möglichen Gedanken durch den Kopf geschossen.

Wie lange würde ich überhaupt noch in Beaufort bleiben? Es existierte kein fester Plan. Meine Eltern hatten mich zu meiner Tante geschickt, weil sie mich so weit wie möglich von Folkestone wegbringen wollten. Sie waren der Ansicht, dass ich dringend Abstand brauchte.

Zuerst hielt ich nichts von diesem Vorschlag, aber schnell wurde mir klar, dass es eigentlich kein Vorschlag war. Das Oneway-Ticket war bereits gebucht, als sie mich in ihre Pläne einweihten. Ich fragte gar nicht erst, wann ich zurückkommen würde. Mir war sofort bewusst, keine zufriedenstellende Antwort zu bekommen und ehrlich gesagt, hatte ich sowieso ziemlich schnell in den Mir-doch-egal-Modus geschaltet.

In der Nacht vor dem Abflug hatte ich ein letztes Mal Gregs Grab besucht. Mich einfach auf den kühlen Boden gesetzt und ihm gesagt, wie sehr er mir fehlte. Irgendwann begann es zu regnen. Erst waren es nur vereinzelte Tropfen, vielleicht auch ein indirektes Zeichen von ihm, dass es Zeit war, wieder nach Hause zu gehen.

Und doch blieb ich einfach sitzen, unbeeindruckt von der langsam zunehmenden Intensität des Regens.

»Willst du mich etwa loswerden?«, richtete ich mich irgendwann anklagend an meinen besten Freund. Mittlerweile war der graue Stoff meines Pullovers von dunklen, nassen Flecken überzogen gewesen, während ich noch immer stur auf dem Boden verharrte.

Wie auf Kommando begann es noch heftiger zu regnen und ich konnte nicht anders, als bitter aufzulachen. »Dein scheiß Ernst?«, schob ich mit einem Blick in Richtung der dichten Wolkendecke hinterher.

Eigentlich benötigte ich keine Antwort, denn tief in meinem Herzen wusste ich, was Greg für mich wollen würde:

Loslassen.

Selbst wenn dafür eine Reise in die Vereinigten Staaten von Amerika notwendig war und ich niemals angenommen hätte, dass es jemals wieder eine Perspektive für mich geben könnte.

Who Is Dylan?Where stories live. Discover now