𝔻𝕣𝕖𝕚𝕫𝕖𝕙𝕟

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Meine Eltern waren bereits einige Stunden im Restaurant, als ich für meine nicht-Verabredung das Haus verließ. Zumindest würden sie unter diesen Umständen nichts von meinen fragwürdigen Machenschaften mitbekommen. Ganz davon abgesehen, dass ich überhaupt keine Lust hätte, mir schon wieder eine Ausrede einfallen zu lassen.

Als ich um kurz vor acht Uhr schließlich schweißgebadet vor dem Anwesen von Mrs. Foster ankam, erschien es mir noch immer vollkommen surreal Zeit mit Dylan zu verbringen – wenn auch nur für ein paar Minuten. Obwohl ich nun herausgefunden hatte, wer hinter dem Brief steckte, wusste ich genaugenommen noch immer nicht, wer er eigentlich war. Er blieb ein wandelndes Mysterium für mich – daran hatte auch das Enthüllen seiner Identität nichts geändert.

Ich schüttelte kurz meinen Kopf, um die vielen unbeantworteten Fragen aus meinen Gedanken zu verbannen. Stattdessen betrachtete ich unschlüssig den weißen Gartenzaun vor mir. Was erwartete er von mir? Sollte ich reingehen und klingeln oder einfach darauf warten, dass er das Haus verließ?

Genau in diesem Moment öffnete sich auch schon die Haustür und eine glücklich aussehende Mrs. Foster trat auf die Veranda. »Hallo Claire«, rief sie mir euphorisch zu und unterstrich ihre Aussage mit einem Wink in meine Richtung.

Oh Gott, ich fühlte mich wirklich furchtbar.

Gleich hinter ihr erschien Dylan, was sogleich zu einem erneuten Schweißausbruch bei mir führte. Er verabschiedete sich mit ein paar Worten von seiner Tante, dann joggte er lässig die Stufen zum Vorgarten hinunter. Zu meiner Verwunderung hatte er den Kapuzenpullover gegen ein schlichtes schwarzes Shirt getauscht, welches perfekt zu dem hellen Blauton seiner Jeans passte.

»Hey«, begrüßte er mich mit einem halbherzigen Lächeln, während er seine Finger um den Griff des Gartentörchens legte, um dieses mit einer schwungvollen Bewegung zu öffnen. Er trat hinaus, gab seiner Tante – welche selbstverständlich noch immer auf der Veranda stand und uns beobachtete – ein letztes Handzeichen und setzte sich dann auch schon mit eiligen Schritten in Bewegung.

Alles geschah so schnell, dass ich Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. »Wohin gehen wir?«, wollte ich atemlos von ihm wissen, während ich ihn unauffällig von der Seite musterte. Das dunkelblonde Haar reichte ihm fast bis zum Kinn, was seinem markanten Gesicht irgendwie etwas Weiches verlieh. Seine blauen Augen wurden von dichten Wimpern eingerahmt und obwohl ich zugeben musste, dass er wirklich attraktiv aussah, hatte der Kummer unübersehbare Spuren hinterlassen.

»Ich hab doch gesagt, dass wir nur ein Stück die Straße runtergehen. Dann trennen sich unsere Wege wieder, keine Sorge«, antwortete er, als wäre es das selbstverständlichste der Welt.

»Und was machst du dann?«, wollte ich daraufhin von ihm wissen. Natürlich ging es mich nichts an, trotzdem interessierte es mich und ganz davon abgesehen, hatte ich ohnehin nichts zu verlieren. Allem Anschein nach hielt er mich sowieso schon für eine irre Stalkerin, die nichts Besseres zu hatte, als fremden Personen nachzustellen.

Zu meiner Verwunderung verlangsamte er sein Tempo und sah mich das erste Mal direkt an. »Ich werde noch eine Weile spazieren gehen, denke ich.«

»Hast du das in England auch gerne gemacht?«, hakte ich vorsichtig ein. »Spazieren gehen?«

Für den Bruchteil einer Sekunde lachte er verbittert auf. »Nicht wirklich, aber Zeiten ändern sich, richtig?«

»Ja, das ist wahr«, stimmte ich ihm zu, während wir das Ende der Straße erreicht hatten. Seine Tante konnte uns an diesem Punkt des Weges bereits nicht mehr sehen.

»Also dann ... Danke für deine Hilfe«, richtete er sich erneut an mich, bevor er sich auch schon abgewandt hatte. »Man sieht sich vielleicht nochmal.«

Innerlich haderte ich mit mir, weil ich mich unwillkürlich fragte, was er wohl vorhatte. War er noch immer suizidal oder ging es ihm mittlerweile zumindest ein wenig besser?

»Wir könnten das auch zusammen machen«, schlug ich spontan vor, ohne über die Bedeutung meiner Worte nachzudenken. Er drehte sich daraufhin zu mir um und bedachte mich mit einem skeptischen Blick.

»Was meinst du?«, wollte er sofort von mir wissen, eine Augenbraue fragend nach oben gezogen.

»Spazierengehen«, konkretisierte ich meinen Vorschlag und ignorierte dabei soweit wie möglich meinen rasant steigenden Adrenalinpegel.

Hatte ich jetzt etwa vollkommen den Verstand verloren?

Dylan schien über meinen Vorschlag ebenso überrascht zu sein, wie ich selbst. Er betrachtete mich überlegend. »Warum?«

»Weil ich sowieso nichts zu tun habe. Ich habe heute meinen freien Abend und ... naja ... jetzt sind wir eh schon zusammen hier.«

»Ich fürchte, ich bin keine sonderlich gute Gesellschaft«, widersprach er kopfschüttelnd, während er demonstrativ an mir vorbeiblickte. Ein wenig wirkte es so, als hielte er nach einem geeigneten Fluchtweg Ausschau.

»Das stört mich nicht und außerdem müsstest du deine Tante dann nicht anlügen«, versuchte ich ihn trotzdem zu überzeugen. Normalerweise war ich nicht so penetrant, weshalb mir die Worte wirklich schwer über die Lippen gingen.

»Wenn du meinst«, gab er nach einer kurzen Sprechpause gleichgültig zurück. »Aber sag hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

Eine Zeit lang liefen wir daraufhin schweigend nebeneinander her. Erst als wir einen weiteren Block passiert hatten, traute ich mich, erneut das Gespräch zu suchen. »Wie lange bist du schon hier?«, wollte ich von ihm wissen, darauf bedacht, eine möglichst unverfängliche Frage zu stellen.

»Zwei Wochen. Fühlt sich aber an wie eine Ewigkeit.«

»Warst du vorher schon mal hier?«

»Nur einmal als Kind«, erwiderte er. »Meinen Eltern waren die Flugtickets wohl zu teuer.«

»Wie ist es so in England zu leben?«

»Nicht viel anders als hier, schätze ich«, antwortete er schulterzuckend. Er schien kurz zu überlegen, ob er noch etwas ergänzen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen und hüllte sich stattdessen erneut in Schweigen.

Mittlerweile hatte die Dämmerung eingesetzt und wir steuerten geradewegs auf die Brücke zu. Irgendwie war es ein beklemmendes Gefühl, mit ihm gemeinsam an diesen Ort zurückzukehren.

War nun vielleicht der richtige Zeitpunkt gekommen, um ihm endlich die Wahrheit zu sagen?

Who Is Dylan?Where stories live. Discover now