ℕ𝕖𝕦𝕟

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»Geht's dir gut?«, wollte er von mir wissen, während ich ihn noch immer mit großen Augen anstarrte. Anschließend deutete er unschlüssig auf das vor uns liegende Haus. »Willst du zu meiner Tante?«

Oh Gott, er hatte offensichtlich keinen Schimmer, wer ich war.

»Ich ... ähm ... mir geht es gut und eigentlich wollte ich mir nur mal die Häuser in der Umgebung ansehen«, brachte ich unter leichtem Krächzen hervor. Verstohlen wischte ich mir dabei den Schweiß von der Stirn und hoffte, er würde keine weiteren Fragen stellen.

Bitte was? Hatte ich das gerade wirklich gesagt?

»Na dann ...«, erwiderte er nach einem kurzen Moment peinlicher Stille. »Viel Spaß noch bei ... was-auch-immer.«

Anschließend öffnete er eilig das vor ihm liegende Gartentörchen, um schnellstmöglich den Vorgarten durchqueren zu können. Mühelos joggte er die Stufen zu der Veranda hinauf und zog seinen Schlüssel hervor. Bevor Dylan durch die Haustür verschwand, drehte er sich noch einmal sichtlich irritiert zu mir um, worauf ich es endlich schaffte, den Blick von ihm abzuwenden.

Hektisch setzte ich mich daraufhin in Bewegung. Mein Puls raste noch immer, als ich in die nächstmögliche Straße einbog. Ich konnte einfach nicht fassen, was sich nur ein paar Minuten zuvor abgespielt hatte. Vollkommen außer mir zog ich mein Handy aus der Tasche und wählte Megans Nummer.

Es dauerte nicht lange, da meldete sich meine Freundin verschlafen am anderen Ende der Leitung. »Hast du mal auf die Uhr geguckt?«, wollte sie vorwurfsvoll von mir wissen, während sie ausgelassen in das Telefon gähnte.

Einen kurzen Augenblick später hatte ich sie über alles informiert und von ihrer Müdigkeit schien nichts mehr übrig zu sein. Im Gegenteil, sie amüsierte sich außerordentlich über mich. »Ich fasse zusammen: Du hast wie ein Creep vor dem Haus von Mrs. Foster herumgelungert und ausgerechnet der Typ hat dich dabei erwischt. Anstatt dir etwas Sinnvolles einfallen zu lassen, hast du ihm erzählt, dass du nichts Besseres zu tun hast, als dir morgens um sieben Uhr Häuserfassaden anzusehen?«

»Was hätte ich denn sagen sollen?«, wollte ich verzweifelt von ihr wissen. Aus der Ferne war es schließlich immer leichter, Ratschläge zu erteilen.

»Keine Ahnung! Du hättest einfach behaupten können, dass dir dein Hund davongelaufen ist oder so«, antwortete sie noch immer lachend. »Ich frage mich, was er eigentlich so früh draußen gemacht hat«, schob sie überlegend hinterher.

»Er war joggen. Zumindest lassen mich seine Sportklamotten und die Laufschuhe darauf schließen.«

»Wie sah er denn aus? Gruselig?«

»Megan!«

»Was denn? Wenn wir schon jemandem nachstellen, will ich wenigstens wissen, wie er aussieht«, gab sie sich unschuldig.

»Ich habe niemandem einfach so nachgestellt«, verteidigte ich mich trotzdem empört. »Er wollte sich vor meinen Augen von der Brücke stürzen, schon vergessen?«

»Woraufhin du angefangen hast, ihm nachzuspionieren oder nicht? Ist ja auch egal. Erzähl mir einfach, wie er aussieht.«

»Du bist echt anstrengend, weißt du das eigentlich?«, stöhnte ich daraufhin genervt auf. »Also gut ... Er ist deutlich größer als ich, seine Haare waren – glaube ich – dunkelblond und dass er blaue Augen hat, weißt du ja bereits«, vollendete ich meine Beschreibung. Wer befasste sich schon mit Äußerlichkeiten, wenn es viel eher darum gehen sollte, die Geschichte hinter seinem Verhalten zu erfahren.

»Wie alt ist er?«

»Ich schätze so alt wie wir. Vielleicht auch ein, zwei Jahre älter.«

»Er war joggen, also ist er sportlich, richtig? Und einen britischen Akzent hat er auch noch? Klingt ganz schön heiß«, kicherte sie drauflos, woraufhin ich tatsächlich kurz davor war einfach aufzulegen.

»Können wir jetzt wieder darüber reden, was ich nun machen soll?«, wollte ich gereizt von ihr wissen. Immerhin hatte ich noch immer seinen verdammten Brief in meiner Tasche.

»Entweder du gehst zurück und sagst ihm die Wahrheit oder du schmeißt den Brief in den Briefkasten«, zählte sie meine Möglichkeiten auf. Es war nicht so, dass ich mir dessen nicht bewusst gewesen wäre. Viel mehr überforderte mich die Tatsache, nun eine Entscheidung treffen zu müssen.

»Ich schätze, ich werde den Brief einschmeißen. Nach meiner Vorstellung eben werde ich sowieso keinen vernünftigen Satz mehr herausbekommen«, überlegte ich resigniert. Natürlich wollte ich noch immer wissen, was ihm widerfahren war, aber nun würde ich es womöglich nie erfahren.

»Wenigstens hast du das Rätsel zumindest teilweise gelöst. Wir wissen jetzt, wer er ist und du kannst ihm den Brief zukommen lassen, was dir doch so wichtig ist!«, versuchte sie mich aufzubauen. »Obwohl du eigentlich nichts zu verlieren hast, wenn du nochmal mit ihm redest. Ich meine ... er hält dich wahrscheinlich sowieso schon für eine Irre.«

So war Megan. Sie nahm kein Blatt vor den Mund und manchmal verfluchte ich sie dafür.

»Ich melde mich später wieder bei dir, okay?«, entschied ich und beendete kopfschüttelnd das Telefonat. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich die ganze Zeit ziellos durch die Gegend gelaufen war.

Nachdem ich mein Telefon in meiner Tasche verstaut hatte, lief ich zielstrebig zurück nach Hause. Glücklicherweise stellte mir meine Mom ausnahmsweise keine nervigen Fragen, als ich eilig zur Haustür eintrat. Ich steuerte auf direktem Wege mein Zimmer an und kniete mich vor meinen Schreibtisch, um einen Briefumschlag aus der unteren Schublade zu ziehen.

Anschließend zog ich Dylans Brief hervor, betrachtete ihn ein letztes Mal und steckte ihn ohne zu zögern in den Umschlag. Dann schrieb ich mit einem schwarzen Marker in Großbuchstaben seinen Namen auf das Kuvert, bevor ich es mit einigen Lagen Tesafilm verschloss. Auf diese Weise konnte ich ihm den Brief anonym zurückgeben, ohne zu befürchten, dass seine Tante den Brief las, sollte sie den Briefkasten leeren. Einen verschlossenen und an ihren Neffen adressierten Umschlag würde sie sicherlich nicht öffnen.

Kurzerhand knipste ich ein Foto des Briefumschlags, sendete es an Megan und machte mich dann erneut auf den Weg, um mein Vorhaben endgültig in die Tat umzusetzen.

Who Is Dylan?Dove le storie prendono vita. Scoprilo ora