𝕍𝕚𝕖𝕣𝕫𝕚𝕘

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In den folgenden Wochen verbrachten Dylan und ich weiterhin viel Zeit miteinander. Wenn ich arbeiten musste, trafen wir uns meist tagsüber oder er holte mich nach Schichtende ab, um mit mir den Abend verbringen zu können.

Seit er den Brief in den Tiefen des Beaufort River versenkt hatte, wirkte er insgesamt gelöster. Die Beseitigung des Schriftstückes stand dabei sinnbildlich für sein eigenes Loslassen – er war endlich bereit, nach vorne zu blicken. Zumindest war dies meine Interpretation.

Je mehr Zeit wir miteinander verbrachten, desto stärker wurden auch meine Gefühle für ihn. Obwohl mir durchaus bewusst war, dass er irgendwann zurück nach Folkesstone gehen würde, versuchte ich, diese Tatsache auszublenden. Stattdessen erwischte ich mich häufig dabei, mir über die Art unserer Verbindung Gedanken zu machen.

Ich wollte mit ihm zusammen sein, das stand vollkommen außer Frage. Ihn gedanklich als meinen Freund zu bezeichnen, ließ mein Herz höher schlagen. Allerdings wusste ich nicht, wie er dazu stand und aufgrund seiner Vorgeschichte fehlte mir der Mut, dieses Thema offen anzusprechen. Unsere Küsse, die Berührungen und Zärtlichkeiten – all das fühlte sich für mich nach Beziehung an. Nicht, dass ich sonderlich viel Erfahrung damit gehabt hätte. Im Gegenteil: Meinen ersten – und davor einzigen – Kuss hatte ich vor zwei Jahren von einem Mitschüler beim Flaschendrehen bekommen, aber auch sonst hatte sich mein Interesse an romantischen Beziehungen zuvor in Grenzen gehalten. Durch Dylan war nun jedoch alles anders.

Ich genoss es, ihm zuzuhören. Er erzählte von seiner Kindheit, dem Leben in England und gelegentlich auch von Greg und ihrer Freundschaft. Oft musste ich daran denken, wie Dylan ziemlich am Anfang einmal erwähnte, dass Greg mich gemocht hätte. Mittlerweile war ich ebenfalls felsenfest davon überzeugt, denn mit jeder Anekdote über seinen besten Freund, wuchs mir ebendieser mehr ans Herz.

Außerdem lachte Dylan mittlerweile häufiger, was wohl auch seiner Tante aufgefallen war, wie er irgendwann beiläufig erwähnte. Insgesamt konnte man also sagen, dass sich alles in die richtige Richtung entwickelte. Meine Eltern wussten inzwischen ebenfalls über meine Treffen mit Dylan Bescheid, allerdings hatte ich ihn noch nicht offiziell zu Hause vorgestellt. Allerdings würden sie sich wahrscheinlich nicht mehr lang gedulden, denn sie lagen mir bereits seit Tagen damit in den Ohren, ihn endlich kennenlernen zu wollen.

Mittlerweile waren bereits zwei Monate der Sommerferien vorüber und ich befürchtete, der noch verbleibende Monat würde ebenso schnell vergehen. Am liebsten hätte ich wohl einfach die Zeit angehalten. Es war mir in der Zwischenzeit sogar gelungen, Dylan die Fotografie näher zu bringen, was mir unglaublich viel bedeutete.

»Alles okay?« Dylan betrachtete mich aufmerksam von der Seite. Offenbar hatte er mein Grübeln sofort bemerkt.

»Ich habe nur gerade darüber nachgedacht, wie schnell die Zeit vergeht«, antwortete ich ehrlich, während ich mich verloren in der alten Scheune umsah. Inzwischen war dieser Ort zu unserem gemeinsamen Lieblingsplatz geworden und wir hatten bereits zahlreiche Stunden hier verbracht.

»Das ist wahr«, seufzte er zustimmend. Dylan wusste, wie sehr ich mich vor der Zukunft fürchtete. Einer Zukunft, in der er in ein Flugzeug steigen und zurück nach England fliegen würde. Diese Tatsache hing wie ein drohendes Damoklesschwert über uns, was er allerdings besser auszublenden schien als ich. »Jetzt sind wir hier - gemeinsam«, schob er liebevoll nach und strich mir zärtlich eine meiner verwirrten Locken aus dem Gesicht.

Ganz automatisch suchte ich seine Lippen, presste meinen Mund sehnsüchtig gegen seinen. Ich schob die trüben Gedanken beiseite, fokussierte mich stattdessen darauf, meine Hände über seinen Körper wandern zu lassen.

Ohne den Kuss zu unterbrechen, ließen wir uns nach hinten auf die Decke fallen. Es steckte so viel Leidenschaft in diesem Kuss, dass er mir vollkommen die Sinne vernebelte. Aufgewühlt von den Gefühlen, die er in mir auslöste, ließ ich meine Hände über seinen Brustkorb nach unten wandern. Als ich den Saum seiner Jeans erreicht hatte, versuchte ich kurzerhand den Knopf zu öffnen. Plötzlich hatte ich das Bedürfnis, ihm so nah wie möglich zu kommen. Bevor ich jedoch schaffte, meinen Plan in die Tat umzusetzen, umschloss er mein Handgelenk mit seinen Fingern und hinderte mich somit daran, fortzufahren.

»Nicht«, presste er schwer atmend hervor und augenblicklich schoss mir die Röte ins Gesicht. So schnell ich konnte, zog ich meine Hände zurück und legte meinen Kopf auf seinem Brustkorb ab, um ihn nicht ansehen zu müssen.

Einen Augenblick lagen wir schweigend auf der Decke, während ich lediglich seinen schweren Atemzügen lauschte. Ich fühlte mich zurückgewiesen und kam mir auf einmal furchtbar naiv vor.

»Es ist nicht so, dass ich nicht will«, ergriff er irgendwann das Wort, »aber ich denke, wir sollten uns damit noch Zeit lassen.«

»Okay«, antwortete ich tonlos, während mir alle möglichen Gedanken durch den Kopf schossen. Auf der einen Seite wussten wir nicht einmal, wie viel Zeit uns noch blieb und außerdem schien er es seinerzeit auf der Party mit Beth ziemlich eilig gehabt zu haben.

Es war nicht mal so, dass ich geplant hatte, heute mit ihm schlafen zu wollen, aber die Tatsache, zurückgewiesen zu werden, traf mich unerwartet schwer. Den restlichen Abend sprachen wir nicht mehr darüber, aber es lag eine unangenehme Spannung in der Luft.

Als ich irgendwann in meinem Bett lag, konnte ich nicht einschlafen. Kurzerhand textete ich Megan.

Hey! Bist du
noch wach?

Ungeduldig blickte ich auf das Display und atmete erleichtert auf, als sich ihr Status auf online änderte.

Klar.
Alles gut?
Wie war
euer Abend?

Gut. Zumindest so
lange, bis ich
versucht habe,
seine Jeans zu öffnen.

Wait. What?

Bevor ich jedoch dazu kam, meine ursprüngliche Nachricht zu konkretisieren, klingelte auch schon mein Telefon und eine aufgeregte Megan war am anderen Ende. Daraufhin erzählte ich ihr detailliert, was vorgefallen war.

»Ich stehe gerade etwas unter Schock.« Sie hatte ein wenig gebraucht, um ihre Sprache wiederzufinden, weshalb mich ihre Antwort nicht wirklich überraschte. »Halten wir also fest: Du willst mit ihm schlafen, aber ich weiß von nichts?«

»Darum geht's doch gar nicht. Ich wusste bis vorhin selbst nicht mal, dass ich es will«, seufzte ich theatralisch, während ich mit dem Zeigefinger meine Schläfe massierte. »Tatsache ist aber, dass er anscheinend nicht möchte. Zumindest nicht mit mir, denn mit Beth hätte er es immerhin schon nach ein paar Stunden getrieben.«

»Ich werte es als gutes Zeichen, ehrlich gesagt.«

»Wie meinst du das?« Nur mühsam schaffte ich es, meine Empörung zu verbergen.

»Du bist etwas Besonderes für ihn, das solltest du mittlerweile wissen. Beth wäre ein One-Night-Stand geworden und ist somit kein besonders guter Vergleich. Außerdem war die ganze Sache auch etwas überstürzt von dir und vielleicht wollte er nicht, dass du es anschließend bereust.«

Oh.

Aus der Perspektive hatte ich es tatsächlich nicht betrachtet, aber plötzlich dämmerte mir, dass sie mit ihrer Meinung vielleicht gar nicht so verkehrt lag.

Who Is Dylan?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt