𝕊𝕖𝕔𝕙𝕤

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Unruhig wälzte ich mich von der einen Seite auf die andere, während ich immer wieder angestrengt meine Augen zupresste. Es wollte mir einfach nicht gelingen, eine bequeme Position zum Einschlafen zu finden. Obwohl ich erneut das Zeitfenster meiner Eltern überzogen hatte, war der mysteriöse Dylan nicht auf der Brücke aufgetaucht und wenn ich so weitermachte, würde ich wahrscheinlich bald überhaupt keinen Freigang mehr bekommen.

Automatisch griff ich unter mein Kissen, um seinen Brief hervorzuziehen. Wahrscheinlich sollte ich es abhaken. Er hatte sich an jenem Abend nicht umgebracht und es offensichtlich auch nachträglich nicht getan. Anderenfalls hätte sich die Nachricht eines Selbstmörders ganz sicher bereits verbreitet.

Vielleicht war es eine Art Kurzschlussreaktion, die ihn auf die Brücke geführt hatte?

»Du musst es vergessen«, murmelte ich zu mir selbst und verstaute das Papier wieder unter meinem Kissen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund kreisten meine Gedanken permanent um diesen Kerl. Letztendlich sah ich aber keine weiteren Möglichkeiten, etwas über ihn herausfinden zu können. Das Studieren der Todesanzeigen hatte genauso wenig gebracht wie das Lesen der Unfallberichte.

Ich zwang mich, erneut meine Augen zu schließen. Doch auch der verzweifelte Versuch an etwas Anderes zu denken, scheiterte. Immer wieder tauchte sein überraschtes Gesicht vor mir auf, seine blauen Augen, die mich für den Bruchteil einer Sekunde schockiert betrachtet hatten.

Nein. So konnte es nicht weitergehen.

Energisch drehte ich mich auf die Seite und entschied, von nun an loszulassen. Es ging nicht anders.

****

Irgendwie hatte ich es tatsächlich geschafft in den Schlaf zu finden und am nächsten Morgen zu einer halbwegs vernünftigen Uhrzeit aufzustehen. Tatsächlich war es mir sogar gelungen, den Brief einfach unter meinem Kopfkissen liegen zu lassen. Dies wertete ich als gutes Zeichen.

Nach dem Frühstück schnappte ich mir meine Kamera samt Ausrüstung und verließ das Haus, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben. Eine Zeit lang lief ich durch die Straßen unserer Kleinstadt und suchte nach einem passenden Motiv.  Keine Wolke war zu sehen und die Sonne hatte die Temperatur bereits wieder auf sommerliche 32 Grad steigen lassen.

Spontan fotografierte ich ein paar der Pferdekutschen, die wie so oft zahlende Touristen durch unsere Stadt kutschierten. Dabei schnappte ich immer wieder einzelne Gesprächsfetzen von Menschen in meiner Umgebung auf, aber glücklicherweise war in keiner Konversation das Wort Selbstmord gefallen. Deutlich gelöster versuchte ich mich vollkommen auf die Fotografie zu konzentrieren. Irgendwann stellte ich tatsächlich fest, nicht mehr dauernd über diesen verdammten Brief und alles, was damit zusammenhing, nachgedacht zu haben.

Gerade als ich mir die Kamera für einen Objektivwechsel um den Hals gehangen hatte, klingelte mein Telefon. Megan versuchte mich zu erreichen.

»Na, bist du wieder damit beschäftigt, Dylan ausfindig zu machen?«, begrüßte sie mich neugierig. Selbstverständlich hatte ich sie am Abend darüber in Kenntnis gesetzt, dass er auch nach unserem Telefonat nicht mehr auf der Brücke aufgetaucht war. Nun nahm sie natürlich an, dass ich meine Suche fortsetzen würde.

»Ehrlich gesagt nicht«, antwortete ich also wahrheitsgemäß. »Ich wüsste auch nicht, wie oder wo ich noch suchen soll und außerdem ist es nicht gut für mich, mich die ganze Zeit mit diesem Thema zu befassen.«

»Was?« Sie klang aufrichtig überrascht. »Gestern wolltest du noch alle Hebel in Bewegung setzen, um ihn zu finden und heute tust du so, als wäre nie etwas passiert?«

»Megan«, stöhnte ich genervt auf. »Tut mir leid, deine Neugierde nicht befriedigen zu können, aber ich schätze, wir werden wohl nie erfahren, was dahintersteckt. Er hat sich nicht umgebracht – Ende der Geschichte.«

»Oh, na wenn das so ist, muss ich dir ja auch nicht von meiner neuen Idee berichten«, gab sie unschuldig zurück und ich konnte förmlich hören, wie sie demonstrativ die Schultern hob.

»Ich bin ganz Ohr«, antwortete ich nach einer kurzen Gesprächspause, während ich mich zeitgleich dafür verfluchte. Hatte ich nicht eigentlich beschlossen, es gut sein zu lassen?

»Du könntest eine Anfrage beim digitalen Archiv von South Carolina stellen«, erklärte sie in einem Tonfall, als hätte sie soeben den heiligen Gral entdeckt.

»Eine Anfrage beim Archiv?«, wiederholte ich nüchtern ihre Worte. »Und was genau soll ich dort anfragen?«

»Zum Beispiel die Todesfälle, die die Namen Greg, Gregor oder Gregory beinhalten. Ist alles öffentlich zugänglich, das habe ich schon gecheckt«, sprudelte sie drauflos und ich hatte Mühe, ihr zu folgen. »Wenn es kein Autounfall war oder die Familie keine Todesanzeige geschaltet hat, konntest du im Internet nicht fündig werden. Allerdings sind dort tatsächlich alle Todesfälle registriert.«

Wow. Das waren wirklich viele Informationen auf einmal und obwohl ich mich dagegen wehrte, setzten sie mein Gedankenkarussell erneut in Gang.

»Ich weiß nicht ...«

»Ach komm schon, Claire. Eigentlich willst du noch immer herausfinden, was hinter der ganzen Sache steckt, oder?«

Natürlich. Es wäre gelogen, das Gegenteil zu behaupten. Allerdings schätzte ich meine Erfolgschancen mittlerweile ziemlich gering ein.

»Lass mich erstmal in Ruhe darüber nachdenken«, erwiderte ich ausweichend, während ich die Kamera bereits zurück in den Rucksack gepackt hatte. Wahrscheinlich war es besser, mir die weitere Vorgehensweise nochmal allein durch den Kopf gehen zu lassen.

»Halt mich auf dem Laufenden, ja?«, vergewisserte sich meine beste Freundin aufgeregt. Ihr wechselndes Temperament konnte manchmal ganz schön anstrengend sein.

Nachdenklich begab ich mich auf den Heimweg.

Wenn ich vernünftig war, würde ich bei meinem ursprünglichen Entschluss bleiben. Immerhin hatte ich eigentlich nicht das Recht, mich dermaßen in das Leben anderer Leute reinzuhängen. Allerdings besaß ich noch immer etwas von ihm. Seinen Brief, den ich ihm wirklich gerne zurückgeben wollte.

Die viel wichtigere Frage lautete also: Würde ich überhaupt in der Lage sein, es gut sein zu lassen?

Who Is Dylan?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt