ℤ𝕨𝕖𝕚

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Vorsichtig näherte ich mich der Person, angestrengt darauf bedacht, keine lauten Geräusche zu verursachen. An den Konturen konnte ich ausmachen, dass es sich um einen Mann handeln musste. Obwohl es unglaublich warm war, trug er einen weiten Kapuzenpullover. Die dazugehörige Kapuze hatte er tief ins Gesicht gezogen.

»Hey«, rief ich so sanft, wie es mir möglich war. Mein Mund war mittlerweile vollkommen ausgetrocknet und mein Herz drohte vor Aufregung, jeden Moment aus meinem Brustkorb zu springen.

Bevor ich dazu kam, meine Ansprache fortzusetzen, riss die Person überrascht den Kopf in meine Richtung. Obwohl ich einen Sicherheitsabstand von ein paar Metern eingehalten hatte, brannten sich seine blauen Augen für den Bruchteil einer Sekunde in meine. Dann drehte er sich mit einer schnellen Bewegung zurück zum Geländer, kletterte über die Brüstung und sprang zurück auf den Fußgängerweg. Als er sich hektisch auf sein Bike schwang, fiel ihm etwas Weißes aus der Tasche seines Pullovers. Da dies alles innerhalb eines Wimpernschlages geschah, blieb mir keine Zeit, ihn auf seinen Verlust aufmerksam zu machen. Wie paralysiert beobachtete ich, wie er mit seinem Fahrrad in die andere Richtung davonfuhr. Ich blickte ihm nach, bis er irgendwann nicht mehr zu sehen war.

Erst dann schaffte ich es, mich aus meiner Starre zu lösen. Ganz automatisch trugen mich meine Beine zu der Stelle, wo er auf das Rad gestiegen war. Ich verstaute eilig die Kamera in meiner Tasche und hob dann den Zettel auf, den er unfreiwillig zurückgelassen hatte. Es handelte sich um einen gefalteten Brief, welcher offenbar schon oft gelesen worden war. Dies erkannte ich daran, dass die Falten bereits ziemlich rissig schienen.

Unschlüssig betrachtete ich das Papier in meinen Händen. Sollte ich einfach so den Brief eines Fremden lesen?

Obwohl die Antwort eindeutig Nein lauten musste, konnte ich nicht anders. Ich schaltete meine Moralvorstellungen aus und faltete das Papier auseinander.

Greg,

ich habe echt keinen Plan, wie ich weitermachen soll. Warum konnte ich nicht einfach auf dich hören? Diese abgefuckten Gedanken bringen mich noch um.

Wieso habe ich dich überredet?

Immer wieder gehe ich den Tag in meinen Gedanken durch.

Sie sagen, es sei nicht meine Schuld – aber warum fühlt es sich dann so an?

Verdammt.

Du fehlst,

Dylan

Im Schein der spärlichen Brückenbeleuchtung las ich seine Worte. Immer und immer wieder. Obwohl es nur ein paar Sätze waren, spürte ich seinen Schmerz ganz deutlich. Es war, als würde die Verzweiflung in seinen Worten zu mir sprechen.

Anscheinend hatte dieser Dylan eine nahestehende Person verloren. Offenbar fühlte er sich derart hoffnungslos, dass er darüber nachdachte, sein Leben zu beenden.

Ohne das ich etwas dagegen unternehmen konnte, sammelten sich Tränen in meinen Augen. Ob dies tatsächlich an seinen Worten lag, oder an der Gesamtsituation, konnte ich nicht klar definieren. Vielleicht war es auch eine Mischung aus beidem.

Das plötzliche Klingeln meines Telefons ließ mich irgendwann zusammenzucken. Noch immer in Gedanken zog ich es aus meiner Tasche.

Eingehender Anruf von Dad.

»Wo steckst du? Deine Mom und ich stehen seit zehn Minuten vor dem Laden und warten auf dich.«

Oh Shit, ich hatte die Zeit vollkommen vergessen.

»Ich bin sofort da«, antwortete ich noch immer um Fassung bemüht. Kurz überlegte ich, ihm am Telefon von dem Vorfall zu berichten, allerdings hielt mich eine innere Stimme davon ab. Wahrscheinlich wäre es ohnehin besser, so eine Botschaft persönlich zu überbringen. »Gebt mir zwei Minuten«, schob ich also nach und beendete das Gespräch, bevor er etwas erwidern konnte.

Anschließend verstaute ich den Brief sorgsam in meiner Tasche und machte mich im Laufschritt auf den Weg zurück zu unserem Restaurant. Als ich von der Brücke auf die Promenade einbog, war ich mir jedoch plötzlich nicht mehr so sicher, ob ich meinen Eltern tatsächlich von dem Vorfall erzählen sollte.

Was würde es auch ändern? Dylan war bereits über alle Berge und es gab in dem Brief keine Hinweise auf einen Nachnamen oder seine Wohnanschrift. Demzufolge hatte auch die Polizei keine Möglichkeit ihn zu ermitteln, richtig? Zumindest versuchte ich mir das einzureden, denn irgendetwas in mir wollte den Brief nicht einfach so hergeben.

»Wir hatten eine halbe Stunde vereinbart, nicht wahr?«, begrüßte mich mein Dad mit einem vorwurfsvollen Blick auf seine Armbanduhr. Mom stand ebenfalls mit verschränkten Armen vor mir und wartete augenscheinlich auf eine Erklärung für meine Verspätung.

»Es tut mir leid. Ich habe ein paar Schiffe fotografiert und einfach die Zeit aus den Augen verloren. Kommt nicht wieder vor – versprochen.« Wow. Diese Lüge ging leichter über meine Lippen als gedacht.

Zu meinem Glück stellten meine Eltern keine weiteren Fragen. Wie hätten sie auch ahnen sollen, dass ihre Tochter nur ein paar Augenblicke zuvor einem potentiellen Selbstmörder begegnet war?

Gemeinsam liefen wir den kurzen Weg zu unserem Haus. Während meine Eltern sich mal wieder über die Arbeit unterhielten, hing ich meinen Gedanken nach. Eigentlich liebte ich unsere beschauliche Kleinstadt mit den kleinen Straßen und den Häusern im Kolonialstil, aber aktuell kreisten meine Gedanken nur um diesen mysteriösen Kerl auf der Brücke.

Wer war Greg und was war mit ihm geschehen?

Warum nahm dieser Dylan an, dass er Schuld am Schicksal einer anderen Person hatte?

Noch bevor wir die Stufen zu unserem Haus hochliefen, wurde mir schlagartig etwas bewusst:

Ich hatte unwillentlich die Büchse der Pandora geöffnet und ich würde nicht in der Lage sein, sie schnellstmöglich wieder zu verschließen.

Who Is Dylan?Where stories live. Discover now