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»Zehn Weißwein-Schorlen, sechs Bier, drei Gläser Sekt und zwei Wasser«, rief Mr. Miller fordernd über die Köpfe der Gäste seiner Hochzeitsgesellschaft in meine Richtung. Eigentlich war ich gerade dabei, die leeren Teller zurück in die Küche zu bringen, aber offensichtlich wollte er mit der Bestellung keine Sekunde länger warten.

»Kommt sofort«, erwiderte ich daraufhin mit einem aufgesetzten Lächeln. Allerdings hatte er sich da längst schon wieder von mir abgewandt.

Normalerweise machten mir feiernde Gesellschaften nicht viel aus. Mit steigendem Alkoholpegel der Gäste, stieg allerdings auch der Stressfaktor deutlich. Getränke, die achtlos umgestoßen wurden oder Teller die auf dem Boden in etliche Scherben zerbrachen. Das alles war ich gewohnt und eigentlich durchaus in der Lage, damit umzugehen.

Trotzdem schaffte ich es aktuell nicht, mich auf die Arbeit zu fokussieren. Meine Gedanken kreisten unaufhörlich um diesen mysteriösen Dylan. Meine Recherche hatte bisher zu keinem Ergebnis geführt, weshalb ich ziemlich frustriert war. Irgendwie schien Megans Idee gar nicht so abwegig. Ihrer Meinung nach sollte ich an diesem Abend unbedingt zur gleichen Uhrzeit wieder auf der Brücke sein. Da ich ihn am Vortag gestört hatte, würde er diesen Ort vielleicht erneut aufsuchen, um sein Vorhaben in die Tat umsetzen zu können.

Während ich das schwere Tablett mit den schmutzigen Tellern in die Küche trug, fragte ich mich, wie ich bei einem Aufeinandertreffen überhaupt reagieren sollte. Womöglich würde ich mich nicht mal trauen, ihn anzusprechen. Ganz zu schweigen von der Möglichkeit, ihn beim nächsten Mal nicht von einem Sprung in die Tiefe abhalten zu können und somit doch noch Zeugin eines Selbstmordes zu werden.

In Gedanken versunken stellte ich das Tablett auf die dafür vorgesehene Arbeitsplatte und begann, das Geschirr in die Spülmaschine einzuräumen. Nur am Rande nahm ich wahr, wie die beiden Köche angeregt mit der Küchengehilfin diskutierten. Offensichtlich schien ich nicht die Einzige zu sein, die aktuell unter Strom stand.

Als ich endlich fertig mit meiner Aufgabe war, kam meine Mutter auf mich zugeeilt. Ihrem Gesichtsausdruck nach schien sie nicht sonderlich erfreut zu sein.

»Hast du zufällig etwas vergessen?«, wollte sie vorwurfsvoll von mir wissen, die Arme abwartend vor der Brust verschränkt.

Oh, Mist! Die Getränkebestellung!

»Tut mir leid. Ich wollte eigentlich auf dem Weg in die Küche Bescheid geben«, erklärte ich reumütig und versuchte ihrem strengen Blick auszuweichen.

»Was ist denn los? Du bist schon den ganzen Abend nicht bei der Sache.«

»Danielle fehlt mir einfach – schätze ich«, erwiderte ich leise. Oh Gott, es fühlte sich furchtbar an, die Abwesenheit meiner Schwester vorzuschieben, aber ich sah keinen anderen Weg, um dieser Unterhaltung zu entkommen.

»Mir fehlt sie auch«, gab sie nun deutlich sanfter zurück. Sie griff nach meiner Hand und drückte sie einmal. »Nächstes Jahr um die Zeit wirst du auch auf dem College sein. Das Leben geht immer weiter und das ist auch gut so. Außerdem ist Danielle doch nicht aus der Welt.«

»Du hast recht. Ich werde mich jetzt zusammenreißen.«

»Okay, prima.« Mom warf mir noch ein aufmunterndes Lächeln zu, dann verschwand sie aus meinem Blickfeld.

****

Tatsächlich hatte ich es geschafft, ungefähr zur selben Zeit wie am Vortag das Lokal zu verlassen. Obwohl ich nicht wirklich annahm, an diesem Abend Fotos zu schießen, hielt ich meine Kamera festumklammert.

Während der Arbeit musste ich meine langen Haare aus hygienischen Gründen zu einem Zopf binden, nun löste ich jedoch das Haargummi und fuhr mir ein paar Mal mit den Fingern durch die einzelnen Locken. Wenn ich nervös war, beruhigte es mich, mit meinen Haaren spielen zu können.

Mit jedem Schritt, den ich mich der Brücke näherte, begann mein Herz heftiger zu schlagen.

Würde er wirklich wieder dort sein?

Eigentlich sollte ich wohl nicht darauf hoffen, aber auf irgendeine verkorkste Weise wollte ich seine Geschichte erfahren. Außerdem gab es da auch noch seinen Brief, den ich ihm gerne zurückgeben wollte.

Das Adrenalin rauschte durch meine Adern, als ich angespannt die Brücke betrat. Eine Joggerin kam mir auf halbem Weg entgegen, weshalb ich einen Schritt zur Seite trat und sie passieren ließ. Als ich die von mir angesteuerte Stelle erreicht hatte, war jedoch niemand dort.

Kurzerhand zog ich mein Handy hervor und verfasste eine Nachricht an Megan.

Ich bin jetzt auf der Brücke. Er ist nicht hier.

Es dauerte nicht lange, da änderte sich der Status auch schon auf gelesen und nur den Bruchteil einer Sekunde später, rief sie mich auch schon an.

»Hey«, murmelte ich leise, eine Hand auf dem Geländer der Brücke abgestützt. Immer wieder sah ich mich suchend in beide Richtungen um.

»Hi«, erwiderte sie meine Begrüßung. »Wenn er nicht kommt, hat er vielleicht seine Meinung geändert und will sich jetzt doch nicht mehr umbringen.«

»Ich würde ihm aber gerne seinen Brief zurückgeben«, gab ich ehrlich zu. Natürlich hoffte ich, dass dieser Dylan in Zukunft nicht mehr in Erwägung zog, sich das Leben zu nehmen. Trotzdem hätte ich ihn gerne noch einmal gesehen, um ihm das zurückzugeben, was ihm gehörte.

»Vielleicht war es auch nur ein besoffener Tourist. Die stellen manchmal die verrücktesten Dinge an, wie du ja selbst weißt.« Megan schien innerlich schon mit der Geschichte abschlossen zu haben. So war sie halt. Schnell zu begeistern, aber genauso rasch verflog die erste Euphorie auch wieder.

»Mag sein. Ich werde trotzdem noch eine Zeit hier warten«, teilte ich ihr daraufhin mit. Insgeheim wusste ich einfach, dass er kein leichtsinniger Tourist gewesen war. Es steckte mehr dahinter – da war ich mir vollkommen sicher.

»Dann bleibe ich am Telefon. Nicht, dass –«

»Sei mir nicht böse, aber ich werde doch noch ein paar Fotos schießen, ja?«, unterbrach ich sie. Natürlich schätzte ich es trotzdem, dass sie mich aus der Ferne unterstützen wollte.

Allerdings brauchte ich dringend etwas Ablenkung und das funktionierte schon immer am besten, wenn ich meinem Hobby nachgehen konnte.

Who Is Dylan?Onde as histórias ganham vida. Descobre agora