𝕍𝕚𝕖𝕣

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Ohne im Vorfeld eine große Erklärung abzugeben, hielt ich den Brief vor die Kameralinse. »Was ist das?«, wollte Megan sofort mit hochgezogener Augenbraue von mir wissen, woraufhin ich sie im Schnelldurchlauf über die Ereignisse der letzten Nacht aufklärte. Außerdem las ich ihr die Zeilen vor, welche Dylan auf dem Papier festgehalten hatte.

Obwohl ich noch immer leise Zweifel daran hegte, mein Erlebtes zu Teilen, musste ich es mir einfach von der Seele reden. Und wer war da besser geeignet als meine Freundin?

»Warum passieren solche Dinge immer, wenn ich etliche Meilen weit weg bin?« Sie hatte sich offenbar eine windstille Stelle gesucht und blickte mir aufgeregt entgegen. Dabei reflektierte die Sonnenstrahlung auf unangenehme Weise in ihrem Septum-Piercing.

Ganz offensichtlich war ich nicht mehr die einzige, die von den Geschehnissen gefesselt zu sein schien. »Wir leben in Beaufort. Hier passiert nie etwas«, korrigierte ich sie. Dies entsprach der Wahrheit, wenn man von den gelegentlichen Eskapaden einzelner Touristen absah.

»Und du hast wirklich bis heute Morgen vor dem Rechner gesessen und Todesanzeigen studiert?« Anscheinend konnte sie noch immer nicht ganz die Tragweite dessen begreifen, was ich ihr gerade berichtet hatte.

»Habe ich. Aber der einzige Greg, den ich in unserer Umgebung finden konnte, ist fast hundert Jahre alt geworden.«

»Unser Kaff hat nicht mal vierzehntausend Einwohner. Denkst du nicht, wir hätten es mitbekommen, wenn etwas Außergewöhnliches vorgefallen wäre?«

Natürlich hatte ich diesen Umstand bedacht. Ebenso die Tatsache, dass ich wohl jedem Einwohner bereits über den Weg gelaufen war, ihn allerdings definitiv noch nie zuvor irgendwo gesehen hatte. »Deshalb habe ich die Nachbarstädte mit einbezogen, aber auch dort hatte ich mit meiner Suche keinen Erfolg.«

»Was, wenn der Typ ein Mörder ist? Vielleicht hat er diesen Greg umgebracht und seine Leiche beseitigt?«

»Du hast eindeutig zu viele True-Crime-Dokus gesehen«, antwortete ich augenrollend. Kurz bereute ich es, sie überhaupt über alles in Kenntnis gesetzt zu haben. Spürte sie denn nicht den Schmerz, der aus seinen Zeilen sprach? Dies klang nun wirklich nicht nach einem eiskalten Killer.

»Okay, okay«, gab sie beschwichtigend zurück. »Vielleicht hast du bei den Unfallberichten mehr Glück? Möglicherweise ist es auch ein Autounfall gewesen. Außerdem könnte Greg auch Gregor heißen oder nur ein Spitzname sein?«

Auf die Idee war ich tatsächlich noch nicht gekommen. »Dann weiß ich jetzt, womit ich gleich anfange«, antwortete ich sogleich und hoffte inständig, irgendetwas herausfinden zu können.

»Wenn du möchtest, helfe ich dir dabei. Wir werden es zwar nicht schaffen, die ganzen aktuellen Unfallberichte aus South Carolina durchzugehen, aber vielleicht ist ja im näheren Umkreis etwas zu finden?«

Auch wenn ein wenig Hilfe nicht schaden konnte, wollte ich es erstmal alleine versuchen. Außerdem gab es noch eine wichtige Sache, die auf die ich sie unbedingt aufmerksam machen wollte.

»Megan?«

»Ja?«

»Versprich mir, dass du niemandem von der Sache erzählst, okay?«

Sofort führte sie ihre Hand zum Schwur vor die Kamera. »Ich schweige wie ein Grab«, versicherte sie mir und ich wusste, dass ich mich auf ihr Wort verlassen konnte.

****

Obwohl ich kein Hungergefühl verspürte, hatte ich mir das von Mom zubereitete Sandwich und den frisch gepressten O-Saft reingezwängt. Schließlich wollte ich nicht wieder unnötige Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Anschließend eilte ich sofort zurück an meinen Rechner, wo ich mich auf den davorstehenden Schreibtischstuhl fallen ließ.

Da ich bereits den halben Tag verschlafen hatte, blieben mir nur noch ein paar Stunden zum Recherchieren. Um siebzehn Uhr öffnete unser Restaurant wieder seine Türen. Dies bedeutete, dass wir meist eine halbe Stunde vor der regulären Öffnungszeit vor Ort waren, um noch letzte Vorbereitungen für die anstehende Schicht treffen zu können.

Voller Tatendrang und mit Herzklopfen öffnete ich den Browser. Die Unfallberichte der Polizei waren öffentlich zugänglich, was mir die Arbeit zumindest erleichterte. Ich begann damit, die Berichte der letzten Monate zu durchforsten. Angefangen in meiner Heimatstadt Beaufort, den Radius langsam ausweitend.

Ich stieß auf alle möglichen Unfallarten. Gott sei Dank endeten nicht alle tödlich. Trotzdem zogen mich die Berichte runter.

Wenn mich allein das Lesen schon belastete, wie mochte es wohl Dylan gehen?

Kurz schüttelte ich meinen Kopf und versuchte, ihn aus meinen Gedanken zu verbannen. Stattdessen fokussierte ich mich wieder auf die Recherche. Sobald Teenager im entsprechenden Alter involviert waren, checkte ich das Register der zugehörigen Gemeinde, um etwas über ihre Namen herauszufinden. Obwohl ich mittlerweile bereits über zwei Stunden vor dem Monitor saß, hatte ich keine neuen Erkenntnisse in Erfahrung bringen können. So langsam frustrierte es mich.

Genau in diesem Moment versuchte Megan, mich zu erreichen.

»Hey«, nahm ich das Telefonat entgegen, ohne dabei die noch nicht überprüften Polizeiberichte in meinem Browser aus den Augen zu lassen.

»Und? Gibt es etwas Neues?«, wollte meine beste Freundin hoffnungsvoll von mir wissen. Allerdings konnte sie sich die Antwort bereits denken, denn anderenfalls hätte ich sie wohl schon lange informiert.

»Noch nicht«, antwortete ich also geistesabwesend, während ich weiter durch die entsprechenden Artikel scrollte. Es musste einfach irgendwo einen Hinweis geben.

»Ich habe noch eine andere Idee.«

Nun hatte sie meine volle Aufmerksamkeit.

Who Is Dylan?Dove le storie prendono vita. Scoprilo ora