ℤ𝕨𝕒𝕟𝕫𝕚𝕘

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Am liebsten hätte ich meinen Eltern auf der Stelle mitgeteilt, dass ich am Abend bereits etwas Anderes vorhatte. Da dies jedoch nur unnötige Fragen aufgeworfen hätte, entschied ich mich stattdessen dazu, meinen wahren Gemütszustand zu verbergen. Natürlich freute ich mich auf der einen Seite darauf, meine Schwester wiederzusehen. Auch wenn wir grundverschiedene Persönlichkeiten waren, vermisste ich sie. Trotzdem wollte ich Dylan auf keinen Fall absagen. Dies bedeutete also, dass ich mir bis zum Abend einen Plan einfallen lassen musste.

Gleich nachdem meine Eltern zur Arbeit aufgebrochen waren, rief ich meine Schwester an. »Wo steckst du?«, wollte ich sofort von ihr wissen, als sie das Telefonat entgegengenommen hatte. Das laute Rauschen der Freisprechanlage ihres Wagens verriet mir, dass sie bereits unterwegs war.

»Auf der Interstate 95, kurz vor Hendersonville. Warum? Kannst du es nicht mehr abwarten, mich endlich wiederzusehen?«, antwortete Danielle lauter als es notwendig gewesen wäre. »Ich schätze, ich bin in etwa fünfundvierzig Minuten zu Hause.«

»Okay, dann bis gleich«, antwortete ich schlicht und beendete das Telefonat. Überlegend warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Es war mittlerweile kurz nach sechs und ich hatte noch nichts von Dylan gehört. Hatte er unsere Verabredung vielleicht vergessen?

Ich spielte mit dem Gedanken, ihm eine Nachricht zu schicken, entschied mich dann aber dagegen. Schließlich wollte ich nicht aufdringlich wirken. Stattdessen lief ich ins Obergeschoss, um in meinem Zimmer nach dem richtigen Outfit zu suchen. Mit einer schwungvollen Bewegung öffnete ich also den Kleiderschrank und betrachtete unschlüssig die darin befindlichen Klamotten. Kurzerhand griff ich mir ein schlichtes dunkelblaues Kleid, entledigte mich meiner bisherigen Kleidung und schlüpfte anschließend in meine Auswahl.

Automatisch fiel mein Blick in den gegenüberstehenden Spiegel, wo ich mich einen Moment lang kritisch begutachtete. Eigentlich konnte ich mit diesem Outfit nicht viel falsch machen. Es war dezent, reichte mir bis knapp übers Knie und der allgemeine T-Shirt-Schnitt verlieh ihm etwas Sportliches. Sollte es also tatsächlich zu einem Date mit Dylan kommen, wäre ich definitiv nicht overdressed.

Moment ... Hatte ich das anstehende Treffen gerade gedanklich als Date bezeichnet?

Sofort begann ich, heftig meinen Kopf zu schütteln. Fast so, als könnte ich meine Gedanken auf diese Weise einfach aus meinem Kopf vertreiben.

»Es ist bloß ein Treffen. Nicht mehr, nicht weniger«, murmelte ich leise zu mir selbst. Ganz davon abgesehen, wusste ich noch immer nicht, ob er es sich vielleicht anders überlegt hatte.

Trotzdem wanderte mein Blick erneut zu meinem Spiegelbild. Meine rotbraunen Haare fielen mir in leichten Locken über die schlanken Schultern, bildeten mit ihrer Farbgebung jedoch einen perfekten Kontrast zu dem dunklen Blau meines Kleides. Obwohl ich meine braunen Augen und die Sommersprossen in meinem Gesicht mochte, verspürte ich eine plötzlich aufkommende Unsicherheit. Mehr als einmal war ich in der Schule bereits als Mauerblümchen oder Langweilerin bezeichnet worden, was sich nicht gerade positiv auf mein Selbstwertgefühl ausgewirkt hatte.

Dylan war eindeutig nicht der Typ Junge, welcher normalerweise Interesse an meiner Gesellschaft zeigte. Er konnte mit Sicherheit jede haben und obwohl es absurd war, stimmte mich diese Tatsache traurig. Im Endeffekt war es doch so, dass ich mich ihm aufgedrängt hatte und er – da er aus England stammte – hier ohnehin niemanden kannte. Vielleicht wollte er auch einfach nur sichergehen, dass ich seine geheimen Aktivitäten nicht verriet.

Das nicht zu überhörende Geräusch unserer Haustür riss mich irgendwann aus meinen trüben Gedanken.

»Hey Nervensäge! Wo steckst du?«, rief Danielle lachend aus dem Untergeschoss, während sie mit einem lauten Rums die Tür hinter sich zu schlagen ließ. Anstelle einer Antwort lief ich aus meinem Zimmer und nahm auf dem Weg nach unten zwei Stufen auf einmal. Als ich meine Schwester schließlich erreicht hatte, schloss ich ohne zu zögern meine Arme um sie.

Obwohl wir uns früher fast täglich wegen irgendwelcher Kleinigkeiten in den Haaren hatten, freute ich mich, sie endlich wieder um mich zu haben. Wenn auch nur für ein paar Tage.

»Also«, richtete sie das Wort an mich, nachdem wir uns voneinander gelöst hatten. »Hast du Lust auf Nachos und irgendeinen Film?« Danielle öffnete den Reißverschluss ihres Rucksacks und hielt mir zwei Packungen Tortillas vor die Nase.

»Ich würde wirklich gerne, aber voraussichtlich werde ich später noch kurz zu Megan rübergehen«, log ich und ignorierte dabei mein schlechtes Gewissen.

»Was? Hast du etwa keine Lust dir den Gossip über mein Studentenleben zu geben?« Sie legte die Nachos theatralisch auf dem Esstisch ab und stemmte mit gespielter Empörung ihre Hände in die Hüften.

»Doch, aber ich fände es wirklich großartig, wenn wir das auf Morgen verschieben könnten. Megan geht es im Moment nicht so gut«, erklärte ich kleinlaut. Schließlich konnte ich ihr unmöglich die Wahrheit sagen. Zumindest noch nicht.

»Ist schon in Ordnung«, lachte meine Schwester daraufhin und wuschelte mir durch meine Locken, bevor sie sich wieder den Nachos zuwandte. Sie griff eine der Tüten und bedeutete mir mit einer Geste, dass sie es sich sofort vor dem Fernseher gemütlich machen wollte.

Ich folgte ihr ins Wohnzimmer und beobachtete, wie sie sich in das weiche Lederpolster sinken ließ. Sie griff nach der Fernbedienung, als wäre sie nie fortgewesen und begann, die Auswahl eines Streaming-Dienstes zu durchforsten. Kurzerhand nahm ich neben ihr Platz, denn bisher hatte ich immer noch nichts von Dylan gehört und somit stand in den Sternen, ob unser Treffen überhaupt stattfinden würde.

Danielle begann beiläufig, ein paar Anekdoten aus ihrem neuen Alltag zu berichten. Natürlich nicht, ohne sich in regelmäßigen Abständen Tortillas in den Mund zu stopfen und diese anschließend lautstark zu kauen. Das hatte ich tatsächlich nicht vermisst. Trotzdem hörte ich ihr aufmerksam zu und musste zugeben, dass sich ihr Studentenleben tatsächlich ziemlich cool anhörte. Da der Name „Joshua" auffällig häufig fiel, vermutete ich, dass sie ein Auge auf ihn geworfen hatte – allerdings verkniff ich mir einen entsprechenden Kommentar.

Irgendwann – als ich schon selbst nicht mehr damit gerechnet hatte – vibrierte mein Telefon. Zögerlich nahm ich es an mich, vermutete aber insgeheim, es würde sich um eine Nachricht von Megan handeln.

Als mir jedoch eine neue Mitteilung von Dylan angezeigt wurde, beschleunigte sich mein Herzschlag sofort:

Hey Claire! Ich stehe vor deiner Tür und warte auf dich.

Who Is Dylan?Where stories live. Discover now