Der Moment, als die Augenbinde fiel

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45. Kapitel

Nicht viele Menschen begrüßten uns – die meisten ignorierten uns sogar gekonnt, nur zwei ältere Menschen kamen auf uns zu. Ich strich mir schnell mein Kleid glatt und versuchte, möglichst liebenswürdig zu lächeln. Und was genau tat man mit den Händen? Jasper, der meine Veränderungen mit einem kleinen Grinsen kommentierte, richtete sich aber auch leicht auf und lächelte die beiden aufrichtig an. Als ich seine halbwegs entspannte Haltung sah, beruhigte ich mich ein wenig und musterte den alten Mann und die Dame etwas genauer, während sie Jasper in herzliche Umarmungen schlossen.

Beide wirkten freundlich, Lachfalten um ihre Münder und Augen ließen sie sympathisch wirken und mit ihrer Freude gegenüber Jasper schienen sie bei mir massenweise Pluspunkte zu sammeln.

Als sie sich schließlich mir zuwandten, musste ich den Drang unterdrücken, nervös zu Jas zu schauen. Schließlich entschied ich mich, ihnen meine Hand hinzuhalten und mich selbst vorzustellen, da Jasper – dieser Kulturbanause – dies wohl nicht übernehmen würde.

„Hi, ich bin Charlie, eine Freundin von Jasper." Die beiden nickten bedächtig und die Frau schien mit außerordentlicher Neugier zwischen Jas und mir hin – und herzuschauen.

„Wir sind Jaspers Großeltern", meinte schließlich der Mann mit holpriger Stimme und bevor ich Erkennen vortäuschen konnte, sprach er gleich weiter.

„Du musst gar nicht so tun, als ob er etwas von uns erzählt hat. So wie wir unseren Jasper kennen, hat er das Thema Familie elegant umrundet." Der Mann wandte sich mit hochgezogenen Augenbrauen an eben diesen, schaute aber nicht wirklich böse drein. Die Frau lachte leise, bevor sie den Arm ihres Ehemannes ergriff und ihn mit einem Winken von uns wegzog.

„Martyn, du sollst Jasper doch nicht vor seiner Freundin bloßstellen. Er wird noch ganz verlegen wegen dir", rügte sie ihn und die Liebe in ihrem Blick überraschte mich. Wahrscheinlich waren sie schon lange zusammen, und doch hatten sie sich gegenseitig nicht satt. Das Jas' Oma mich als seine Freundin sah, ignorierte ich verlegen, obwohl ich mich innerlich fast schon etwas freute.

„Die beiden machen sich wahrscheinlich gleich wieder auf den Weg zum Buffet, nachdem sie genug interessierte Mienen geheuchelt und Konversation über das Wetter betrieben haben. Sie lieben es, Kuchen und andere Süßigkeiten mitgehen zu lassen: Es ist der einzige Grund, warum sie überhaupt bei solch gestelzten Feiern auftauchen", flüsterte Jasper mir ins Ohr, während wir uns durch Menschengruppen schoben, um an den Tisch zu gelangen, an dem Jasper unsere Plätze vermutete.

Ich lächelte zu ihm hoch.

 

„Ich mochte die beiden – sie wirkten wie Menschen mit schönen Seelen", meinte ich schließlich und Jasper lächelte zurück, während in seinen Augen seine ganze Zuneigung für die beiden zu sehen war.

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Wir saßen in der Mitte eines langen Tisches, auf zwei mit cremefarbenem Samt überzogenen Stühlen. Den Kuchen hatten wir zuvor auf dem Buffet bereitgestellt, aber einer der Bediensteten stellte ihn sofort in die hinterste Ecke des Tisches. Ich versuchte, es nicht allzu nah an mich herankommen zu lassen.

Da es keinen direkten Anfang gab – oder wir ihn bereits verpasst hatten – häuften wir unsere Teller mit allerlei - hoffentlich essbaren - Kram an, bis sie überzulaufen drohten.

„Denkst du, es gibt auch Blaubeermuffins?", fragte ich schließlich Jasper, der genauso fasziniert die kleinen Schokoladenskulpturen auf unseren Tellern musterte wie ich. Wir warteten bereits seit ein paar Minuten vor dem Buffett, dass die hübsche Dame vor uns sich für eines des Marzipanrosen entscheiden würde.

Mit verbundenen AugenWhere stories live. Discover now