Gib mir 'ne Sekunde, ich muss kurz weinen

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44. Kapitel

Während ich gebacken hatte, hatte sich wahrscheinlich der Winter in die Welt geschlichen und dabei den Herbst einfach überrannt. Es schien um die zehn Grad kälter zu sein, als es zu dieser Jahreszeit angebracht war. Das Einzige, was mich davon abhielt, mich einfach von Coachs Seite zu stehlen und nachhause zu flitzen, war mein Vorhaben gegenüber Jasper. Okay, und die dankbaren Mienen der Footballspieler, wenn ich ihnen die Flaschen und Handtücher reichte.

Die zweite Halbzeit war bereits gleich zu Ende und die Tribünen waren verdammt voll für dieses Wetter. Die aus unserer Freundesgruppe, die keinen Footballfetisch hatten, saßen irgendwo auf den Tribünen hinter mir, doch ich hatte bereits vergeblich nach ihnen Ausschau gehalten. In diesem Chaos könnte man nicht einmal Hulk im Hello-Kitty-Kostüm finden. Also hatte ich mich auf das Spiel konzentriert, wenn Coach nicht irgendwelche Kommentare wie „Diese Nummer drei der anderen Mannschaft, der hat doch gerade nicht allen Ernstes einen Chop Block gemacht!" machte, zu denen ich nur stümperhaft nicken konnte. Gerade war unser Team zu einer Taktik übergegangen, bei der ich mir am liebsten die Augen zugehalten hätte. Ich wusste, was gleichkommen würde, was jeder Gegner tun würde. Jayden hatte den Ball scheinbar Jasper überreicht, der jetzt lossprintete – mitten zwischen die Gegner, um zu punkten. Keiner bemerkte, dass Jas unter seinem Arm seine Hand so gekrümmt hatte, dass man erst unglaublich nah an ihm dran sein musste, um zu realisieren, dass sich dort kein Ball befand. Ich aber wusste, worauf ich achten musste: Weiter hinten auf dem Spielfeld, nah am Rand, flitzte nun Glenn nach vorne, den Ball in seinen Händen. Als die ersten Gegenspieler merkten, was hier zu Gange war, war es bereits zu spät: Bei Glenns Vorsprung würde es unmöglich sein, ihn einzuholen. Kaum war er über der Linie, brannte ohrenbetäubender Jubel hinter mir auf. Doch ich blieb still. Mein Blick lag auf der Gestalt, die sich nur langsam wieder auf die Beine zog, sich langsam die feuchten Haare aus der Stirn strich, bevor sie sofort wieder an ihren Platz fielen. 

„Alles okay, Charlie?" Coach tauchte mit einem breiten Grinsen in meinem Augenwinkel auf und ich nickte kurz gezwungen. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich meine Hände so verkrampft hatte, dass die Knöchel weiß hervortraten und kleine Abdrücke meiner Fingernägel in meinen Handflächen gedrückt waren.

Der Schiri pfiff – das Spiel war endlich vorbei. Erleichtert seufzte ich auf, was von dem Gejohle hinter mir vollkommen übertönt wurde. Coach sprang auf, zog mich auf die Beine und zog mich in eine Bärenumarmung, doch ich hatte keinen Nerv, mich jetzt über ihn lustig zu machen. Sobald ich wieder auf eigenen Beinen stand, schnappte ich mir ein Handtuch, eine Wasserflasche und das Notfallset, bevor ich zu Jasper rannte. Er hatte mittlerweile die Richtung gewechselt und verschwand nun hinter der Tür zu den Kabinen. Die anderen Footballer ließen sich feiern von der Menge und den Cheerleadern, während die andere Mannschaft sich leise verzog. Ich machte kurz Tyler aus, der besorgt in die Richtung schaute, in die Jasper verschwunden war, und ich lächelte ihn beruhigend zu. Auch Shane nickte erleichtert, bevor er sich wieder dem restlichen Team zuwandte und ich in den Kabinen verschwinden konnte.

Als ich in die Umkleidekabine schlitterte, fand ich sie... leer vor. Verwirrt hielt ich inne und versuchte über meinen hämmernden Herzschlag noch andere Geräusche wahrzunehmen. Jasper war hier rein gegangen, ich war mir sicher, ich hatte ihn gesehen... Wasserplätschern ertönte aus einer Tür weiter hinten und ich seufzte erleichtert auf – Jasper war duschen gegangen. Schnell durchquerte ich die Kabine, die sich wie ein verwüsteter, stinkender Kleiderschrank um mich ausbreitete, und stieß die Tür zu den Duschen auf. Jaspers Kopf ruckte hoch in demselben Moment, wo mein Blick sich auf seinen Oberkörper senkte. Nackten Oberkörper. Wassertropfen flossen über ihn, bildeten sich, zerflossen und formten sich neu, während sie sich einen Weg nach unten suchten. Ich konnte meinen Blick nicht lösen – definitiv hatte ich nicht durchdacht, dass er halbnackt vor mir stehen würde. Schon wieder.

Mit verbundenen AugenWhere stories live. Discover now