Die Schlange vor der Ausgabe ist lang und ich habe nicht vor, mich ihr anzuschliessen. Beim Gedanken an die fettige Lasagne wird mir übel. Noch übler, als mir ohnehin schon ist. Ich muss aufhören, muss endlich essen, aber es geht einfach nicht. Fast wie früher. Witzig.
Jemand reisst mich plötzlich heftig zur Seite, packt mein Handgelenk und zerrt mich grob an sich. Glorias dunkle Augen blitzen nur Zentimeter vor meinem Gesicht auf, ihre zweite Hand liegt auf meiner Schulter. Ich kann ihr Parfüm riechen, als sie sich noch ein Stück weiter vorbeugt, bis sich unsere Oberkörper beinahe berühren.
"Willst du ein Skelett werden, oder was?", zischt sie und ignoriert dabei die Menschenreihe, die sich neugierig an uns vorbeidrängt.
"Lass mich los", bringe ich perplex hervor. Sie schnaubt und verzieht dabei die schönen Lippen zu einem kaum sichtbaren Lächeln.
"Antworte, dann überleg ich's mir."
"Das geht dich nichts an."
Sie hebt die Augenbrauen.
"Ok. Aber vielleicht Danny."
"Nein", antworte ich genervt. Solange ich tue, was sie wollen, kann ihnen der Rest egal sein.
"Warum denkst du, mag Nastja Danny nicht, hm?", fragt sie und klingt dabei gereizt, als ob ich zu dumm wäre, um das Offensichtliche zu erkennen. Als ich nicht antworte, schleudert sie mit Zeigefinger und Daumen eine verirrte Locke weg, die mir verwahrlost ins Gesicht hängt.
"Weil sie alles ins Klo kotzt, wenn niemand hinsieht und Danny ihr das nicht durchgehen lässt, im Gegensatz zu Jamie. Überraschung, wird er auch bei dir nicht. Und du bist in Probezeit."
Genervt schiebe ich ihre Hand von meiner Schulter. Sie zuckt nicht mit der Wimper, als ich sie unsanft ein Stück von mir wegschiebe, um mir ein wenig Platz zu schaffen. Probezeit.
"Das ist meine Sache."
Sie packt unversehens ein Büschel meiner Locken, reisst mein Gesicht schmerzhaft zu sich heran, sodass ihre Nase meine beinahe berührt, ihre Haare meinen Hals streifen. Ihre dunklen Augen mustern mich ernst.
"Jetz' nicht mehr. Also – isst du oder nicht?"
Ich kann ihr nicht antworten, mir bleibt die Luft weg, als die Panik meine Bronchien hinaufklettert. Die ganze Situation ist mir allzu bekannt, gleich kommt die Ohrfeige, dann noch eine und noch eine, bis Blut aus der Nase tropft. Ich schliesse instinktiv die Augen.
Die Ohrfeige kommt nie. Gloria atmet bloss langsam aus, ich spüre ihren Atem an meiner Wange vorbeiziehen, als ich wieder aufsehe. Für einen Moment starrt sie mich mit ausdruckslosem Gesicht an, ihre Habichtsaugen glitzern im gelblichen Licht der Mensa.
"Nicht so tolle Kindheit gehabt, ne?", sagt sie schliesslich und lässt mein Handgelenk fallen, als hätte sie gerade in glühende Kohlen gefasst. Ich mache einen Schritt zurück, bevor sie noch etwas sagen kann, noch einen, bis sie belustigt schnaubt.
"Okay, wie du willst", sagt sie, ihre weissen Zähne schimmern spöttisch zwischen dem dunklen Lippenstift hervor. "Danny freut sich immer, wenn ich anrufe."
Mit einer ironischen Kusshand dreht sie sich um und drängt sich in die Menschenschlange neben uns, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen. Ich zweifle keine Sekunde daran, dass sie ihn anrufen wird. Scheisse wird er wütend sein. Nicht mal eine Woche lang habe ich durchgehalten, nicht mal zwei verdammte Tage.
"Alter, du stehst im Weg."
Ich taumle zur Seite. Fuck, mir ist plötzlich wieder so schwindelig. Fuck, fuck, fuck, sie werden mich rauswerfen, doch wieder Psychiatrie. Er wird so wütend sein, so enttäuscht. Er wird gehen, wie Aaron, mich nicht mehr anschauen können. Ich muss mit Gloria reden, muss essen, irgendwie, bevor alles kaputt geht. Aber Gloria ist weg, verschwunden in dem Meer aus wogenden, lachenden Köpfen vor mir.
"Tres!"
Nick drückt mich sanft wieder von den Zehenspitzen zurück auf die Fersen, als ich mich erschrocken zu ihm umdrehe. In seinem blonden Haar hängt eine dünne, geflochtene Strähne, die ihm verirrt ins Gesicht fällt. Sein Lächeln erlischt jäh, als er meine Panik bemerkt.
"Hey", sagt er leise. "Was ist?"
Mir wird noch übler, als er mich aus dunklen Augen besorgt ansieht. Zucker oder Angst.
"Lass uns bitte rausgehen, ja?", sage ich mit erbärmlich zittriger Stimme. Er nickt und folgt mir wortlos durch die automatische Glastüre nach draussen. Die kalte Januarluft beisst sich beinahe augenblicklich in meinem Körper fest, der nur mässig in der Lage ist, selbst Wärme zu produzieren.
"Nimm meinen Mantel, deine Jacke bringt nichts, die ist viel zu dünn", sagt Nick, der unruhig hin und herwippend neben mir stehen bleibt. Sein blondes Haar mit dem kleinen Zopf schwingt im Takt vor und zurück und lässt ihn aussehen wie einen Piraten auf Landgang.
"Nein lass", wehre ich rasch ab. "Du brauchst ihn selbst. Warum bist du überhaupt hier?"
Er lächelt belustigt, doch seine Augen bleiben ernst, als er mir seinen wollenen Mantel entgegenstreckt.
"Ich bin aber nicht so ein Skelett wie du, also nimm endlich."
Skelett. Meine Selbstbeherrschung kracht zusammen wie ein Kartenhaus, meine Beine wanken unter mir. Skelett, Skelett, Skelett und ich bin selbst schuld. Nick zieht mich in eine Umarmung, bevor ich ihm ausweichen kann, eine Hand an meinem Hinterkopf, einen Arm um meine Hüfte.
"Ich hab Scheisse gebaut", flüstere ich gegen seinen warmen Hals. Er antwortet nicht, aber sein Zeigefinger fährt sanft über meinen Nacken, zeichnet kleine Muster auf meine Haut.
"Was?", fragt er schliesslich sachte.
"Ich habe zu wenig gegessen."
"Wie meinst du das?", fragt er verwirrt. Meine Worte klingen so lächerlich, dass ich mich am liebsten in dünne, eisige Winterluft auflösen würde. Gott, es ist so kalt hier draussen.
"Wann hast du zuletzt etwas gegessen, Tres?"
"Sonntag", sage ich müde. Sonntag, als Danny mir beim Essen zugeschaut hat.
"Warum?"
"Ich weiss nicht. Er wird so wütend sein, ich..."
"Nein nein nein, glaub das nicht", unterbricht mich Nick rasch. "Er wird nicht wütend."
"Was, wenn sie mich rauswerfen? Ich bin auf Probezeit."
Nick schiebt mich von sich, um mir ins Gesicht zu sehen, hält mein Kinn mit beiden Händen fest. Allein diese winzige Bewegung reicht aus, um das Karussell in meinem Kopf anzustossen und alles zum Drehen zu bringen. Ich glaube, ich atme zu schnell, vielleicht atme ich auch gar nicht mehr, vielleicht ist das wie mit dem Essen.
"Tres, sie werden dich nicht deswegen rauswerfen, mach dir keinen Kopf. Du bist bloss übelst unterzuckert und übermüdet, du brauchst eine Pause."
"Nein, ich mein's ernst", flüstere ich, die schwarzen Flecken tanzen schon wieder vor meinen Augen. "Ich hab's kaputtgemacht."
Er schüttelt den Kopf, versucht einhändig den Mantel von seinem Arm zu zerren, ohne mich loszulassen. Irgendwie fühle ich mich betrunken.
"Nein. Setz dich hin, Tres, bitte, du schwankst."
"Nein, ich muss jetzt los, sonst komm ich zu spät zur Physio."
"Vergiss es. Du gehst nicht zur Physio. Setz dich endlich hin."
Er drückt mich auf den Boden, direkt neben dem Mülleimer, zu dem trotz Rauchverbot ein immer voller Aschenbecher gehört. Es riecht nach Nikotin und Pisse und Erde. Nick zieht mir seinen dicken, dunkelblauen Mantel an, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Müde lasse ich den Kopf gegen die kalte Betonwand hinter mir sinken.
"Ich bin ein scheiss Freund, nicht wahr?"
Nick sagt kurz nichts, bleibt über mich gebeugt sitzen, dann schüttelt er den Kopf.
"Nein, du kannst nichts dafür. Ich wünschte nur, dass es dir besser ginge."
Etwas einseitige Beziehung bis jetzt.
Ich war in den Ferien, – aber jetzt geht's wieder weiter! Nächste Woche erstmal im anderen Buch, dann wieder mit Nick & Tres.
x