Kapitel 45

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Die ganze Nacht konnte ich kein Auge zu machen, ich bin viel zu aufgeregt. Nur noch eine Stunde und ich bin hier weg. Mit einem breiten grinsen im Gesicht packe ich noch ein paar Sachen in eine Tüte, der Rest kann hier bleiben. Als würde Tinka etwas bemerken, legt sie sich immer wieder in den Weg und versucht meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, auch Katerchen ist die ganze Zeit ziemlich anhänglich. Gedankenverloren streichle ich mit der linken Hand Tinka und mit der anderen Katerchen, damit die beiden mich nicht komplett wahnsinnig machen. „Seid immer schön lieb und artig, wenn ich nicht mehr da bin“, flüstere ich den beiden zu und lehne meinen Kopf an Tinka. Völlig aus dem Häuschen, leckt sie mir durchs Gesicht, was mir ein angewidertes schnauben entlockt. Sofort hört sie auf und legt ihren Kopf schief. Grinsend drücke ich mein Gesicht noch mal in ihr raues Fell. Aus dem Wohnzimmer dringt leises Gemurmel in mein Zimmer, dass kann nur Nicole sein, die sich für die Arbeit fertig macht, dann habe ich nicht mehr viel Zeit. Aufgeregt knete ich meine Hände und schaue auf die Tüte. Leise summt mein Handy, schnell greife ich danach und sehe Pias Namen. ‚Pia: Guten Morgen Maus, bist du wach oder muss ich dich anrufen?‘ grinsend gebe ich ihr Bescheid, dass ich schon wach bin. Leise schleiche ich mich aus mein Zimmer und tapse ins Bad, um mich fertig zu machen. Gekonnt ziehe ich den Eyeliner über mein Augenlid und mache mich am anderen Auge, als die Tür aufgestoßen wird und ich mir einen schwarzen Strich quer durchs Gesicht ziehe. Genervt schaue ich zur Tür und sehe Andy, welcher breit grinsend auf mich zu kommt.
„Du hast da was.“ Leise lacht er auf und deutet auf meine Wange.
„Neeein, sag nicht so was.“
„So was“, plappert er mir nach und hält mir einen Waschlappen hin. Dankend nehme ich ihn an und drehe den Wasserhahn auf.
„Wir wollten später mit dir über die neue Wohnung sprechen. Da ist ein großer Keller, den man für dich umbauen könnte. Dann hättest du dein eigenes Reich.“ Ertappt beiße ich auf meine Lippe und versuche mir nichts anmerken zu lassen. Ich kann ja nicht sagen, dass ich abhauen werde und die mich nicht mehr mit einplanen sollen. Tief atme ich durch und drücke mir den Waschlappen ins Gesicht.
„Können wir machen, aber ich bin nach dem BZH noch mit Pia unterwegs. Kann also später werden“, rede ich mich raus und wische über den schwarzen Strich. Nur mit viel Druck und reiben, verschwindet er langsam. Dafür ist meine linke Wange jetzt ziemlich gerötet und schmerzt. Langsam setze ich den Eyeliner wieder am Auge an und konzentriere mich auf die feine schwarze Linie, um nicht noch mal abzurutschen.
„Mach aber nicht zu lang. Ok?“
„Mh“, brumme ich und beobachte ganz genau, wie der Strich am Auge immer länger wird.
„Soll ich dir auch n Kaffee machen?“, flüstert Andy an mein Ohr. Er weiß wie sehr ich es hasse, wenn mich etwas am Ohr kitzelt. Ich schlage nach seinem Gesicht wie wenn ich eine Fliege verscheuche und ernte dafür nur ein herzhaftes Lachen, ehe er mein Handgelenk packt und mich so nach Hinten zieht. „Na, wie kommste hier wieder raus?“ Grinsend schaut er in meine Augen. So oft haben wir diese Spielereien schon gemacht. Schnell drehe ich mich um meine eigene Achse und ziehe meinen Arm mit Schwung auf meinen Oberschenkel. Überrascht, dass es endlich mal geklappt hat, klatsche ich in die Hände und Strecke Andy die Zunge heraus.
„Bamm, siehste ich kanns.“ Triumphierend hebe ich meine Arme.
„Das war nur Glück.“ Mit einem schnellen Griff hat er mich im Schwitzkasten und presst seinen Oberkörper an meinen Rücken.
„Das ist gemein“, nörgle ich und klammere mich an seinen Arm fest.
„Komm schon, das haben wir geübt. Wie kommst du raus?“ Sein Griff wird fester.
„Das können wir doch nicht hier machen.“ Murrend versuche ich ihn von mir wegzudrücken, doch keine Chance. Ich klopfe ihm fest gegen die Schulter, als Zeichen, dass ich aufgebe. Sofort lässt er von mir ab und grinst.
„Sach ich doch, das war vorhin nur Glück.“ Andy wackelt leicht mit seiner Augenbraue.
„Ach, halt doch die Klappe … Bringst du uns jetzt Kaffee?“ Sofort wird meine Stimme sanfter und ich lächle ihn breit an.
„Faules Stück.“ Kopfschüttelnd geht er zur Tür. Empört rufe ich: „Ey, du hast doch gefragt, also stell dich nicht so an.“

Wehmütig lege ich meine Schlüssel auf den Esstisch, die brauche ich jetzt nicht mehr. Mein Herz schmerzt bei dem Gedanken, alles zurückzulassen. Leise nehme ich die Tüte, mit meinen Klamotten, und meine Handtasche, gehe zur Tür und stelle dort die Tüte wieder ab. Michelle spielt in ihrem Zimmer und lächelt mich breit an.
„Spielen wir, wenn du wieder kommst?“, fragt sie leise und schiebt ihr Puppenauto hin und her.
„Mal sehen. Ich muss jetzt los. Hab dich lieb.“ Langsam beuge ich mich zu ihr herunter und drücke ihr einen Kuss auf die Stirn, was ihr ein angewidertes Bäh, entlockt. Andy sitzt im Schlafzimmer vor dem Computer und tippt wild auf der Tastatur.
„Ich bin dann mal weg.“
„Jo, bis später“, ruft er mir zu und nickt kurz. Oh, wenn du wüsstest. Mit schnellen Schritten gehe ich in den Flur, tätschle Tinkas Kopf und schnappe mir meine Tüte. Ich muss hier weg, bevor ich es mir anders überlege. Meine Atmung wird immer unruhiger und ich renne regelrecht die Straßen entlang, zum Busbahnhof. Von weiten erkenne ich Pia, sie steht mit dem Rücken zu mir und schaut auf den Boden. Mit großen Schritten gehe ich auf sie zu, stelle die Tüte ab und lege ihr von hinten meine Hände auf die Augen.
„Anna“, nörgelt sie sofort und legt ihre Hände auf meine.
„Man, warum weißt du das?“ Enttäuscht, dass sie mich sofort erkannt hat gehe ich um sie herum.
„Vielleicht weil du mir vorhin noch geschrieben hast, dass du losgehst?“ Grinsend zieht sie eine Augenbraue hoch und nimmt mich in den Arm. „Musst du wirklich weg?“, fragt sie leise und lehnt ihren Kopf an meine Schulter.
„Ja, ich halt das alles nicht mehr aus. Wir können uns ja trotzdem sehen und schreiben.“ Seufzend nickt sie und ich könnte schwören, dass ich Tränen in ihrem Augenwinkel aufblitzen sehe.
„Wenn was ist, rufst du mich aber an, ok?“ Fest hält sie mich an meinen Schultern und sieht mich eindringlich an. Ich kann ihrem Blick nicht lange standhalten, nicht nur, weil es so aussieht, als würde sie mich nur mit einem Auge ansehen, weil sie schielt. Es tut mir viel zu sehr weh, sie so schnell nicht mehr wieder sehen zu können.
„Guck mal, da hinten kommen Marcel und Ron.“ Schnell schaue ich hinter ihr und frage: „Wo?“
„Du Trottel, hinter dir nicht hinter mir.“ Leise lacht sie auf und dreht mich um. Ron rennt auf uns zu und springt in meine Arme, sodass ich taumelnd gegen Pia stoße.
„Vergiss mich nicht Anna.“ Wie ein Affe klammert er sich an mich fest.
„Wie könnte ich dich vergessen, Äffchen?“ Lächelnd lege ich meine Arme um ihn und drücke ihn fest an mich. Wie mir dieser verrückte Haufen fehlen wird.
„Ey, ich will auch!“, ruft Marcel und schiebt seinen Arm zwischen Ron und mir. Genervt stöhnt er auf und lässt seine Beine von mir herunterrutschen.
„Pass auf dich auf Kleine und mach keinen scheiß“, flüstert er mir ins Ohr und legt seine warmen Hände auf meinen Rücken. Warum will ich noch mal gehen? Ich spüre nur, wie sich weitere Arme um mich legen und werde von allen Seiten gedrückt.
„Könnt ihr mich woanders Gruppensex haben? Oder noch besser lasst mich mitmachen“, höre ich Martin hinter mir und spüre nur noch wie wir hin und her geschoben werden. Die machen es mir echt nicht leicht zu gehen. Seufzend lasse ich meinen Kopf sinken.
„Leute, euer Bus kommt gleich.“ Meine Stimme bebt und bricht zum Ende an, wenn die mich noch länger fest halten bleibe ich hier.
„Du darfst nicht gehen.“ Ron klammert sich an meinem Arm fest und ich habe das Gefühl, dass er gerade zu einem Kleinkind wird.
„Ich muss. Bitte, macht es mir nicht noch schwerer. Ihr seid toll wirklich, aber wenn ich hier bleibe …“ Ich kann nicht mehr weiter sprechen. Ein dicker Klos hängt in meinem Hals und Tränen verschwimmen meine Sicht.
„Komm.“ Pia zieht mich von ihnen weg und drückt mich fest an sich. Sie ist mir die liebste von allen. Schluchzend lege ich meine Arme um sie und klammere mich fest. „Ich weiß Maus. Ich weiß“, flüstert sie und streicht sanft über meinen Rücken.
„Man, ich will nicht heulen!“, beschwere ich mich, über mich selber und wische die Tränen von meiner Wange.
„Wir schreiben gleich, ich sag Herrn Schulz das es dir nicht gut geht, dann geben die zumindest erst mal ruhe und du komm mir ja gut in Wickede an. Sonst such ich dich und Schlag dich.“ Zaghaft nicke ich und nehme sie ein letztes Mal in meine Arme, bevor sie zum Bus geht. Traurig schaue ich zu wie sich die Türen schließen und meine Rasselbande wegfährt. Ab jetzt bin ich auf mich allein gestellt..

Wann hört es auf? Where stories live. Discover now