Kapitel 44

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Noch immer völlig neben mir laufe ich am Fluss entlang. Eine kühle Brise lässt mich kurz schaudern. Seufzend bleibe ich stehen und muss feststellen, dass ich an der gleichen Bank stehe, wie jedes Mal, wenn etwas schiefläuft. Langsam setze ich mich hin und ziehe mein Handy hervor. Sofort springen hunderte Nachrichten mir entgegen. Fast alle sind von Mirko, doch ich habe einfach keine Lust darauf zu reagieren. Ich brauche Ruhe. Ruhe vor ihm, vor mir, vor allem. Warum muss immer irgendwas passieren, kann ich nicht einfach mal glücklich sein? Fragend schaue ich in den bewölkten Himmel, als würde ich dort eine Antwort finden. Doch mehr als ein paar Regentropfen, die mir ins Gesicht fallen, bekomme ich, nicht als Antwort. Das Bild wie mein Opa im Krankenhaus liegt, geht mir nicht mehr aus dem Kopf und verfolgt mich. Mein Vater ist das perfekte Ebenbild von ihm, zumindest jetzt, im Alter. Als junger Mann sah er Opa nicht mal annähernd ähnlich. Mein Herz schmerzt fürchterlich bei dem Gedanken, dass dies vielleicht meine letzten Sätze mit ihm waren. Du musst nicht weinen. Und wieder kullern die Tränen, als würden sie nur darauf warten, einen Auslöser zu bekommen. Ich bin so angekotzt von mir selbst. Immer muss ich weinen, nichts kann mal gut in meinem Leben laufen. Frustriert stöhne ich auf und wische die Tränen aus meinem Gesicht. Immer mehr verfestigt sich der Gedanke endlich hier wegzukommen und mein eigenes Leben, fernab von den ganzen Problemen, zu leben. Leise summt mein Handy in der Hand, was mich zusammenzucken lässt. Ich habe es doch auf stumm gestellt. Papa? Fragend drücke ich den grünen Hörer.
„Jaa?“
„Warst du bei Opa?“, fragt er leise. Ich kann mir gut vorstellen, dass es auch ihm, in dieser Situation, nicht gut geht.
„Ja, aber mir hätte man ruhig sagen können das er im EVK liegt.“ Unruhig knabbere ich an meinen Fingernagel, wenn das so weiter geht, habe ich bald gar keine mehr.
„Ich dachte Nicole geht mit dir dahin, du solltest da nicht alleine sein.“ Laut seufzt er auf.
„War nicht schön ihn so zu sehen“, gebe ich kleinlaut von mir und starre auf einen Hautfetzen, am Nagelbett.
„Ich weiß. Kommst du vorbei? Ich habe gekocht.“ Mich wundert dieser schnelle Themenwechsel nicht, mein Vater ist keiner der über seine Gefühle spricht, außer er ist betrunken und selbst da nicht wirklich. Eigentlich habe ich gar keinen Hunger, aber mir fehlt mein Papa, also bejahe ich und sage ihm, dass ich zwanzig Minuten brauche.
Am liebsten würde ich ihm gleich vorwerfen was er alles falsch gemacht hat und warum er mich immer so Scheiße behandelt, aber er ist mein Papa und trotzdem liebe ich ihn, auf eine verquere Art und Weise. Ich kann es mir nicht erklären, aber ich werde unfassbar nervös, wie ich so vor der Tür stehe und mich an den Haustürschlüssel klammere. Eigentlich wollte er ihn wiederhaben, aber ich habe es einfach vergessen und irgendwie wollte ich diesen Abschluss nicht. Tief atme ich durch, schließe die Tür auf und bleibe im Türrahmen stehen. Laut scheppert etwas zu Boden und mein Vater Flucht vor sich hin. Grinsend schließe ich die Tür und schleiche mich an die Küche heran. Wild fuchtelt er mit seinen Armen herum und hebt einen Topf vom Boden auf.
„So ein blöder scheiß“, murmelt er vor sich hin und stellt den Topf neben den Herd ab.
„Brauchst du vielleicht Hilfe Papa?“, frage ich. Ein leises Lachen dringt aus meinem Mund, weil dieses Bild zu göttlich ist, und gehe in die Küche herein. Überrascht, dass es hier mal etwas ordentlich ist, betrachte ich die Arbeitsplatte. Nur etwas Geschirr steht im Spülbecken.
„Hallo Schätzchen, bringst du die Teller ins Wohnzimmer? Ich räum den Mist hier schnell beiseite.“ Es fühlt sich jedes Mal merkwürdig an, wenn er mich Schätzchen nennt, weil er es einfach so selten tut. Kurz betrachte ich ihn und sehe wieder die Ähnlichkeit mit Opa. Ein stechender Schmerz breitet sich in meiner Brust aus, bevor ich irgendetwas mache lasse ich mich in die Arme von meinem Vater fallen und fange erneut an zu weinen. Alles tut weh und ich weiß nicht wohin mit mir. Sein vertrauter Geruch steigt mir in die Nase und ich versuche mich nur darauf zu konzentrieren. Der herbe Geruch seines Deos, der billige Weichspüler, welcher nur kurzzeitig gut riecht und das vertraute leise Rassel von der Lunge, durch das jahrelange Zigarillo rauchen. Schützend legt er seine Hände auf meinen Rücken und streicht sanft auf und ab.
„Ich weiß“, flüstert er und drückt mich fester an sich. Ich klammere mich an seinem Pullover fest und drücke mein Gesicht an seine Brust. Es tut so unfassbar weh. Nur langsam versiegen meine Tränen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit wie wir in der Küche standen, können wir uns endlich über das Essen hermachen. Es riecht einfach köstlich, auch wenn ich absolut nicht weiß was es sein soll.
„Papa, was ist das?“, frage ich schließlich und stochere etwas mit dem Löffel in der Suppe herum.
„Alles in einen Topf und hoffen.“ Lächelnd schiebt er sich den Löffel in den Mund und sein Grinsen wird nur noch breiter, „Ja, schmeckt.“ Schweigend genießen wir das Essen und ich muss gestehen, dass es wirklich lecker ist. Eine Mischung aus Fleisch und Gemüse mit unfassbar vielen Kräutern. Vollgestopft bis oben hin, lehne ich mich zurück und streiche über meinen Bauch. So viel habe ich schon lang nicht mehr gegessen. Gut, ich hatte auch drei Teller von der Suppe. Meine Oma hätte schon längst gefragt, ob ich Hunger habe oder es mir nur schmeckt. Grinsend schaue ich auf den leeren Teller, es hat eindeutig geschmeckt.
„Gleich kommt ein Film, den ich gucken wollte. Bleibst du noch?“ Mein Vater brauch nicht zu sagen, dass er jetzt nicht alleine sein möchte, das verstehe ich auch so. Lächelnd nicke ich und gemeinsam gehen wir zur Couch. Auch hier ist es aufgeräumt und ich kann mich, ohne etwas beiseite zu schieben hinsetzen. Ob er extra meinetwegen aufgeräumt hat oder macht er das jetzt immer?

Es war ein äußerst entspannter Abend mit meinem Vater und das erste Mal seit langem, dass wir uns nicht angemault haben. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen gehe ich wieder nach Hause und fühle mich einigermaßen wohl. Wir brauchen wohl diesen Abstand, um miteinander auszukommen. Es stört mich auch nicht, wenn wir uns weniger sehen. Es ist so viel angenehmer. Mit verschränkten Armen laufe ich durch die Straßen, mein Blick ist stets nach unten gerichtet, damit ich nicht in etwas hereintrete, was auf dem Gehweg nichts verloren hat. Leise schließe ich die Tür bei Nicole auf und versuche so wenig Krach wie möglich zu machen, aber Tinka hört alles und legt sofort los mit ihrem Gebelle. Stürmisch rennt sie auf mich zu und rutscht über das Laminat gegen meine Beine.
„Psst. Bin doch nur ich“, flüstere ich und streichle ihren Kopf.
„Anna! Ich hab mir Sorgen gemacht, wo warst du?“ Andy kommt auf mich zu und hält mich an den Schultern fest. Besorgt mustert er mich und streicht über meine Arme.
„Ich war erst bei Opa und dann bei Papa, wir haben was gegessen und einen Film geschaut.“ Leicht zucken meine Mundwinkel nach oben, weil ich an das leckere Essen denken muss.
„Warum hast du denn nicht Bescheid gesagt, ich habe versucht dich zu erreichen. Nicole hat auch mehrmals angerufen.“ Ein leichter Vorwurf liegt in seiner Stimme und ich muss ihm recht geben. Ich hätte was sagen sollen.
„Tut mir leid.“ Seufzend lasse ich meinen Kopf sinken und beobachte Tinka, wie sie sich zwischen unsere Beine schiebt. „Eine Tinka breite auseinander.“ Leise lache ich auf und gehe einen Schritt zurück.
„Komm, lass uns eine rauchen und dann geht’s ins Bett. Du musst morgen wieder früh aufstehen.“
„Ja Papa.“ Grinsend Öffne ich die Badezimmertür.

Müde kuschle ich mich in meine Decke ein und antworte Mirko, dass es mir gut geht und ich nur etwas Ruhe brauchte. Sofort bekomme ich eine Antwort von ihm und muss grinsen. ‚Mirko: Ich dachte, dir ist was passiert. Mach so was nicht mit mir. Denk dran, ich warte morgen früh in Hagen auf dich. Schreib mir, wenn du losfährst. Schlaf gut. Ich liebe dich :*‘ mit großen Augen schaue ich auf die Nachricht. Ich habe total vergessen, dass ich morgen schon hier wegwollte. In mir breitet sich eine unfassbare Aufregung aus. Mein Herz beginnt augenblicklich schneller zu schlagen und mein Bauch zieht sich zusammen. Nur noch ein mal schlafen, dann sehe ich diese Stadt, nur wenn es sein muss.

Wann hört es auf? Donde viven las historias. Descúbrelo ahora