Kapitel 65

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„Musst du wirklich schon gehen?“, frage ich deprimiert und schaue auf Leo, der sich an Marv aufgestellt hat, um gestreichelt zu werden.
„Leider ja, wenn ich nicht pünktlich da bin verliere ich meinen Platz. Reicht ja schon, dass ich morgen einen Drogentest machen muss.“
„Warum?“ Unwissend schaue ich zu ihm hoch und lege meinen Kopf schief.
„Weil ich das erste Mal ein Wochenende weg war, seit dem ich in der Klinik bin.“ Das leuchtet mir ein und ich nicke nur. „Hier“, Marv zieht seinen Ring vom Finger und greift nach meiner Hand, vorsichtig schiebt er ihn auf meinen Ringfinger und lächelt, „So lang du den Ring hast, weißt du, dass ich immer wieder kommen werde. Er ist nicht teuer, aber bedeutet mir viel. Pass gut auf ihn auf.“ Mit großen Augen schaue ich ihn an und schüttle den Kopf.
„Nein, dass kann ich nicht anne…“
„Doch du kannst!“ Bestimmend schließt er meine Hand zur Faust, hebt sie an sein Gesicht und drückt einen zaghaften Kuss auf meinen Handrücken. Kurz schließe ich meine Augen und beiße auf meine Lippe. Das kann er doch nicht ernst meinen. Seufzend rücke ich ein Stück näher an ihn heran und kuschle mich an seine Brust. Ich will nicht, dass er geht, die letzten Tage waren die schönsten seit langem und wenn er geht, bin ich wieder allein mit meinen Gedanken.
„Komm Kleine, du musst mich noch zum Bus bringen.“ Grummelnd löse ich mich von ihm. Es bringt ja nichts, er muss fahren.

„Ich will alles wissen“, sagt Pia, während sie mir meinen Kaffee reicht.
„Viel gibt es nicht zu erzählen.“ Schulterzuckend lehne ich mich zurück.
„Das kannst du mir nicht erzählen, du trägst sein T-Shirt und grinst die ganze Zeit, also los erzähl schon.“ Mein Grinsen wird immer breiter und ein Sturm aus Schmetterlingen fegt durch meinen Bauchraum.
„Weiß nicht, wo ich anfangen soll“ druckse ich herum. Pia ist meine beste Freundin und ich sollte mit ihr über alles reden können, aber wie soll ich etwas erklären, was ich selbst noch nicht verstehe? Diese Gefühle hatte ich noch nie, noch nie zuvor hat ein Mann in mir so etwas bewegt. Alles in mir zieht sich zusammen, wenn ich nur an ihn denke und sein Blick. Seufzend schaue ich unter die Decke.
„Du bist total verschossen in den Typen.“
„Halt die Klappe“, brumme ich.
„Anna ist verliebt, Anna ist verliieebt“, sagt sie im Singsang und wirft mich mit einer Hülse ab.
„Pia ist behindert, Pia ist behindert.“ Grinsend Strecke ich ihr meine Zunge raus und nehme noch einen Schluck von meinem Kaffee. Mit ihrem Blick durchlöchert sie mich regelrecht, auch wenn ich mir immer noch nicht sicher bin mit welchem Auge sie mich gerade anschaut.
„Man, mit welchem Auge guckst du jetzt zu mir? Das macht mich kirre.“
„Mobb mich nicht.“ Gespielt verletzt fasst sie sich an ihre Brust.
„Ich mobbe dich nicht, ich wische dich nur.“ Wieder Strecke ich ihr die Zunge heraus, „Gib mal die Hülsen.“ Ihre Hand zittert, wie immer, so stark, dass die Hülsen leise rascheln. Während ich die Schachtel annehme Spanne ich meinen Arm so stark an, dass er anfängt übertrieben zu wackeln, um Pia noch ein bisschen mehr zu ärgern.
„Du bist scheiße.“
„Ich hab dich auch lieb.“ Ich werfe ihr einen Kuss zu und widme mich der Stopfmaschine.
„Sagst du mir jetzt, was ihr unten alles gemacht?“
„Das willst du nicht wissen.“ Lachend greife ich nach dem Feuerzeug und grinse wie ein Honigkuchenpferd.

Verträumt schaue ich in den Nachthimmel, während Leo freudig den Boden beschnuppert. Diese Ruhe ist unglaublich beruhigend. Weit entfernt ist ein Rascheln von den Bäumen zu hören, doch ich versuche es auszublenden, sonst renne ich gleich wieder zurück. Doofe Angst. Seufzend lasse ich mich an einem Baum, am Abhang, nieder. Wäre doch nur alles so einfach wie die Nacht. Alles hüllt sich in Dunkelheit, verstummt und lässt einen innehalten. Wie gewohnt greife ich nach meinem Handy, überrascht schaue ich auf das kleine Icon, welches mir sagt, dass ich eine Nachricht habe. Marv schläft schon, der kann es nicht sein. Schulter zuckend entsperre ich das Display und klicke auf die Nachricht. ‚Mirko: Du dumme Fotze, jetzt weißt du, was ich von unser Beziehung gehalten habe‘ verwirrt lese ich die Nachricht immer wieder und da taucht eine weitere Nachricht auf, samt Video. Zögerlich klicke ich auf Play. Ich höre Tilos Stimme aus dem Lautsprecher dringen: „Ey Anna, schau mal was ich von dir halte.“ Die Kamera schwenkt auf ein kleines rotes Schloss. Fragend halte ich das Handy noch näher an mein Gesicht, obwohl es nichts bringt, so besser etwas erkennen zu können. Immer wieder ist lautes Gelächter zu hören und so wie es sich anhört, sind alle Beteiligten betrunken. Mit einem Ruck ist das Schloss näher und ich erkenne meinen Namen und den von Mirko, es ist unser Schloss, er ist in Köln. Mit geweiteten Augen starre ich weiter auf das Video. Deutlich höre ich das Ratschen eines Reißverschlusses und kurz darauf wird auf einen Penis geschwenkt, wie er auf das Schloss pinkelt. Angewidert verziehe ich mein Gesicht und schaue auf Leo. Wie konnte ich nur mit so jemandem zusammen sein und auch noch denken, dass ich ihn liebe oder er mich?
„Schmeiß es in den Rhein“, sagt eine, mir unbekannte, Person und schon wieder ist lautes Gelächter zu hören.
„Du bist so ne richtige Fotze, Mirko hat was viel besseres verdient, als so was fettes und hässliches wie dich.“ Tilos Hass auf mich, ist klar und deutlich an seiner Stimme und anhand seiner Worte zu erkennen. Meine Brust schmerzt und alles zieht sich zusammen. Es wird still, anscheinend ist das Video zu Ende, doch die Worte von Tilo hallen in meinem Kopf um so lauter. Mich wird niemand jemals lieben können so wie ich aussehe. Verzweifelt klammere ich mich an die Leine und ziehe Leo etwas an mich heran, sofort springt er mit den Vorderpfoten auf meinen Schoß und drückt seine Schnauze an meine Nase. Zaghaft leckt er meine Wange ab, erst jetzt wird mir bewusst wie bitterlich ich weine und schniefe. Wie kann ein Mensch nur so was tun, wo man gedacht hat, dass es Liebe ist? Warum tut er mir das an? Immer fester drücke ich Leo an mich heran und vergrabe mein Gesicht in sein dichtes schwarzes Fell. Ich will das alles nicht mehr, warum kann er mich nicht einfach in Ruhe lassen? So fest ich kann beiße ich auf meine Unterlippe und versuche die Bilder aus meinem Kopf zu verdrängen, doch immer und immer wieder sehe ich den Schwanz von ihm und höre seine Worte. Vorsichtig drücke ich Leo von meinem Schoß und stehe auf.
„Kannst du mir mal sagen, womit ich das alles verdient habe?“ Durch die Baumkronen, kann ich den Nachthimmel nicht sehen, dennoch starre ich nach oben. „Ohne scheiß, wenn es dich wirklich gibt, bist du ein ganz mieser Wichser.“ Meine Stimme ist kaum mehr als ein Wispern. Mit gesenktem Kopf und verschwommener Sicht laufe ich den Weg zurück. Sofort schließe ich die Tür zu meiner Wohnung auf, ich möchte Pia jetzt nicht sehen und auch sonst niemanden. Leise schleiche ich durch die noch immer leere Wohnung und lege mich auf die Luftmatratze. Wird der ganze scheiß jemals aufhören? Seufzend ziehe ich mir die Decke ins Gesicht und rieche an ihr. Der Geruch von Marv hängt noch im Bezug, was mir ein kleines Lächeln auf die Lippen zaubert. Erschöpft nehme ich ein letztes Mal mein Handy in die Hand und sehe schon wieder eine Nachricht von ihm. ‚Mirko: Du dumes fettes stükk hast nix mer zu sagen?‘ Ich koche innerlich vor Wut und Enttäuschung und sammle meine letzten Kräfte um ihn zu antworten. ‚Anna: Im Gegensatz zu dir kann ich Abnehmen, doch du wirst immer dumm bleiben. Bei dir hilft nicht mal die Bild, um deine Bildung zu verbessern.‘ Sofort schalte ich das Handy, nach dem die Nachricht versendet ist, aus klammere mich an die Bettdecke und vergrabe mein Gesicht dazwischen. Eigentlich sollte es mir egal sein, was er mit dem Schloss macht, aber es tut unheimlich weh.
„Leo, komm her.“ Zaghaft klopfte ich auf die Luftmatratze und mache Leo ein wenig Platz, damit er sich zu mir legen kann. „Ohne dich wäre ich ganz schön einsam, egal wie viele Menschen um mich sind, du bist und bleibst mein letzter Halt.“

Wann hört es auf? Where stories live. Discover now